8. Kapitel - Silberrücken Pfeilgiftninjas | CrayZ
- Tim J. R. Ufer

- 19. Juli 2021
- 7 Min. Lesezeit
Auf dem Dach vor uns klebt ein riesiger, schwarzer Skorpion, dessen acht handtellergroßen Knopfaugen uns feindselig mustern. Dabei schnappt das Monstrum immer wieder ungeduldig mit seinen mächtigen Greifzangen durch die Luft. Ein hässlich knirschendes Geräusch ertönt bei jedem Mal, wo die kräftigen Scheren der Bestie aufeinandertreffen. Über dem Skorpion schwebt in einigen Metern Höhe der tödliche Stachel der Bestie wie ein Fallbeil in der Luft, bereit jederzeit zuzuschlagen.
Während wir in einem Höllentempo an dem Skorpion vorbeirasen, kann ich erkennen wie ein dickflüssiges, durchsichtiges Sekret von der Spitze des Stachels heruntertropft und sich mit einem Zischen in die roten Dachziegel brennt.
Das Erstaunlichste an der ganzen Erscheinung ist allerdings nicht die Kreatur selbst, sondern was sich auf ihrem Rücken befindet. Dort hockt nämlich in einem bequemen Schneidersitz, wie in tiefer Meditation versunken, ein kleiner Ninja. Der zwergenhafte Krieger ist etwa 1,40m groß, trägt ein langes Blasrohr und ist beinahe vollständig in schwarz gekleidet. Nur sein Rücken ist aus einem mir unerfindlichen Grund silbern.
Für einen Augenblick trifft sich mein Blick mit dem des kleinen Kriegers und er grinst mich fies an. Dann schießen wir an dem denkwürdigen Duo vorbei. Sofort nimmt der riesige Skorpion die Verfolgung auf.
»Fahr schneller!‹‹, brülle ich durch den tosenden Fahrtwind, während wir durch die menschen- aber leider nicht skorpionsleeren Straßen rasen.
Mit einem Mal erscheint auf den Dächern über unseren Köpfen gleich ein ganzes Dutzend der schwarzen Riesenspinnentiere, alle beritten von einem kleinen Ninja im Schneidersitz. Mit einer Geschwindigkeit, die ich diesen Viechern beim besten Willen nicht zugetraut hätte, spurten sie uns hinterher.
Ein angsterfüllter Blick über die Schulter verrät mir, dass der erste Skorpion uns bereits fast eingeholt hat. Nur noch wenige Meter trennen meinen ungeschützten Rücken von den begierig durch die Luft schnappenden Greifzangen des hässlichen Ungeheuers.
Fassungslos beobachte ich, wie der Ninja auf dem Rücken des Skorpions ein kleines Tuch aus seiner Satteltasche zieht und seelenruhig damit beginnt, sein Blasrohr zu reinigen. Dabei scheint er in diese Tätigkeit vollkommen versunken, als bemerke er die wilde Verfolgungsjagd um ihn herum gar nicht. Anschließend zieht er einen winzigen Pfeil aus seinem Anzug hervor und schiebt ihn bedächtig in die Röhre.
»Scheiße! Clara! Der schwarze Zwerg will uns abschießen!‹‹, schreie ich aus voller Kehle und wäre im nächsten Moment fast vom Motorrad geflogen. Clara hat ruckartig das Steuer herumgerissen und ihr gesamtes Körpergewicht zur Seite geworfen. In Todesangst erstarrt blicke ich auf den steinharten Asphalt, der nur wenige Zentimeter neben meinem rechten Ohr unter uns vorbeifliegt. Nur die Fliehkraft verhindert, dass der raue Untergrund mein Gesicht zu Hackfleisch verarbeitet. Dann haben wir die scharfe Rechtskurve geschafft und das Motorrad richtet sich wieder auf. Erleichtert wische ich mir mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn.
Flup!
Ich schreie auf. Ein kleiner Pfeil hat meinen Kopf nur um eine Handbreit verfehlt und bohrt sich einige Meter weiter in eine Hauswand. Die schwarzen Riesenskorpione scheinen von Claras waghalsigen Manöver nur wenig beeindruckt. Zwar haben wir etwas an Zeit gewonnen, doch unser Vorsprung schmilzt von Sekunde zu Sekunde wie ein Stückchen Butter in der heißen Pfanne. Und offensichtlich haben die kleinen Ninjas zu allem Übel jetzt das Feuer auf uns eröffnet!
Flup! Flup!
Zwei weitere Pfeile verfehlen nur knapp meinen Oberkörper. Ein dritter bohrt sich direkt hinter mich ins Nummernschild des Motorrads.
„Nik, geht´s dir gut?”, ruft Clara mir zu, „Wir müssen es nur bis zu dem großen schwarzen Turm dort hinten schaffen!”
„Was?!”, brülle ich lautstark zurück, „Das sind bestimmt noch an die 500 Meter! Das überleben wir nie!” Wie um meine Aussage zu untermauern, streift ein weiterer Pfeil nur ganz knapp meine linke Wange. Sofort fährt ein brennender Schmerz durch mein ganzes Gesicht. Stöhnend fasse ich mir an die blutende Wange. Die Pfeile müssen vergiftet sein.
Noch einmal werfe ich einen Blick zurück. Insgesamt 15 Skorpione hängen uns nun dicht auf den Fersen. Sie sind mittlerweile so nah an uns herangekommen, dass ich ernsthaft an den Fähigkeiten der kleinen Ninjas zu zweifeln beginne, die noch immer beharrlich jeden ihrer tödlichen Giftpfeile verfehlen. Vermutlich sind die armen Dinger einfach aus der Übung. Kein Wunder, wo sich heutzutage doch kein Mensch mehr freiwillig auf den Straßen blicken lässt.
Der Ninja der uns am nächsten ist, hebt ein weiteres Mal sein Blasrohr an die Lippen. Seine Augen durchbohren mich böse. Offensichtlich ist das kleine Kerlchen fest entschlossen, diesmal nicht zu verfehlen. Zärtlich, fast liebevoll bläst der Ninja in das Röhrchen. Wie in Zeitlupe sehe den kleinen Pfeil durch die Luft schnellen. Direkt auf meinen Kopf zu.
Wumm!
Im nächsten Augenblick befinden wir uns 10 Meter über dem Erdboden. Dann sind es schon zwanzig, nein dreißig Meter und wenige Sekunden später sind die riesenhaften Killerskorpione nur noch winzige schwarze Punkte unter unseren durch die Luft baumelnden Füßen.
Verblüfft blicke ich auf die riesigen Klauen, die Clara und mich mitsamt dem Motorrad durch die Lüfte tragen. Die Räder der Maschine drehen hilflos durch, als versuche das Fahrzeug, wieder festen Boden unter sich zu finden. Fassungslos schaue ich nach oben.
Wieder einmal verschlägt es mir die Sprache. Wir wurden von einem gigantischen, braun gefiederten Riesenadler gerettet!
Das edle Tier stößt einen markerschütternden Triumphschrei aus, während es uns in sicherer Höhe über die Häuserdächer der Stadt trägt. Jeder einzelne Flügelschlag des Greifen scheint kräftig genug, um ein ausgewachsenes Mammut wie eine Stoffpuppe durch die Luft zu katapultieren.
»Sieht so aus, als stecktet ihr da unten in Schwierigkeiten‹‹, meint plötzlich eine tiefe Stimme über mir und das grinsende Gesicht eines Mannes mittleren Alters erscheint neben dem mächtigen Hals des Adlers. Erst jetzt fallen mir die dicken Ledergurte auf, die um den Brustkorb des gigantischen Vogels gespannt sind. Offensichtlich trägt das Tier einen Sattel. Und auf diesem Sattel sitzt ein äußerst muskulöser Mann, der mich mit seiner Glatze, den kantigen Gesichtszügen und seiner Statur irgendwie an einen Soldaten erinnert. Die Ohren des Mannes stehen ungewöhnlich stark zu beiden Seiten ab, er hat einen durchdringenden Blick und etwas an seinem spöttischen Grinsen kommt mir seltsam bekannt vor.
Bevor ich etwas erwidern kann, kommt Clara-Justine mir zuvor: »Du hättest dich ruhig mal früher blicken lassen können! Das waren Silberrückenpfeilgiftninjas! Ein paar Sekunden später und die hätten uns mit ihren Giftpfeilen durchlöchert wie ein Nagelkissen!‹‹
Ein wenig verwundert wegen der mangelnden Höflichkeit, die Clara unserem Retter in Not entgegenbringt, traue ich mich nicht, etwas zu sagen. Ich möchte auf keinen Fall einen Streit riskieren. Nicht, solange wir uns noch mehrere hundert Meter über dem Erdboden in den Fängen eines Riesenadlers befinden, der – wenn überhaupt – nur auf eine Person hört: Diesen Mann.
»Ach komm, Schätzchen‹‹, murrt unser Retter und scheint keineswegs durch Claras Worte verletzt, »Lass deinem alten Herrn doch mal seinen Spaß. Hier ist einfach nichts mehr los diese Tage und du weißt genau, Beagle hatte alles unter Kontrolle.‹‹
Zärtlich streicht der Mann dem riesigen Vogel über die Federn an dessen Hals und das Tier stößt ein wohlwollendes Gurren aus. Offensichtlich ist Beagle der Name des Riesenadlers, der uns soeben gerettet hat.
»Dieser Mann da oben ist…‹‹, setze ich zögernd an.
»Mein Vater, ja‹‹, vollendet Clara meinen Satz, ohne mich anzusehen. Sie scheint zu schmollen.
»Was hast du denn?‹‹, frage ich behutsam und lehne mich ein wenig zu ihr nach vorne, »Immerhin hat er uns gerade das Leben gerettet, oder?‹‹
»Und zwar in allerletzter Sekunde!‹‹, ruft Claras Vater nicht ohne Stolz von oben herab.
»Genau das ist es ja, Dad!‹‹, ruft Clara aufgebracht zurück, »Du immer mit deinen Rettungen in allerletzter Sekunde! Seit ich dir zu Weihnachten dieses Buch mit dem blauen Bären geschenkt habe, ziehst du ständig so eine Scheiße ab!‹‹
»Das Buch war das beste Weihnachtsgeschenk meines Lebens!‹‹, erwidert der Mann empört, »Außerdem hat Beagle durchaus das Zeug zu einem waschechten Rettungssaurier.‹‹ Wie zur Bestätigung stößt der Riesenadler einen weiteren durchdringenden Schrei aus.
Clara schüttelt nur fassungslos den Kopf und ihr Blick wandert nach Bestätigung suchend zu mir. Schnell bemühe ich mich um eine verständnisvolle Miene... oder nein warte, also eine unverständnisvolle Miene für ihren Vater, aber natürlich nicht für sie – für sie soll der Gesichtsausdruck eher so viel sagen wie: Hey, ich versteh dich vollkommen und du hast auch vollkommen Recht und überhaupt du bist wunderschön!
Könnte man einen Knoten in ein Gesicht binden, wäre mir das in diesem Moment mit Sicherheit gelungen. Stattdessen schaue ich Clara mit einem Ausdruck an, bei dessen Anblick mich jeder Arzt sofort in psychiatrische Therapie gegeben hätte. Glücklicherweise ist Clara von der offenen Wunde auf meiner linken Wange abgelenkt, die noch immer ein wenig blutet.
»Bist du sicher, dass du ansonsten unverletzt bist?‹‹, fragt sie in mitleidsvollem Ton und streicht mir mit dem Finger sanft über das zerschürfte Gesicht.
»Mir ging‘s nie besser‹‹, erwidere ich, obwohl mir das Herz noch immer bis zum Hals klopft und mein gesamtes Gesicht brennt, als drücke mich jemand mit dem Kopf voran gegen eine glühende Herdplatte. Ich versuche mich an einem gezwungen Lächeln, aber das verschlimmert den Schmerz noch und ich lasse es doch lieber bleiben. Clara scheint von meinem Schauspiel wenig überzeugt.
»Sobald wir in Sicherheit sind, kümmere ich mich um deine Wunde, okay?‹‹, meint sie nur und bevor ich antworten kann, fällt mir auf, dass das wohl eher eine rhetorische Frage war und jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, um weiterhin den Helden zu spielen. Ich nicke.
»Da wären wir schon!‹‹, ruft in diesem Moment Claras Vater von oben herab und ich spüre, wie der Adler in einen gemäßigten Sinkflug übergeht. Direkt vor uns erhebt sich der riesige schwarze Turm, den Clara mir bereits vom Erdboden aus gezeigt hat. Das Bauwerk hat eine sechseckige Grundform und ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die nach oben hin immer schmaler werden. Aus der Nähe fällt mir auf, dass der gesamte Turm im Licht der Mittagssonne geheimnisvoll funkelt, als wäre er vollständig aus schwarzem Diamant erbaut.
Wenige Augenblicke später landen wir behutsam auf einer kleinen Plattform im oberen Drittel des Turms. Sofort steige ich von dem Motorrad ab und merke, wie meine Beine noch zittern. Das Adrenalin der vergangenen Verfolgungsjagd steckt mir scheinbar noch im Blut.
Claras Vater steigt ebenfalls vom Rücken seines Riesenadlers und kramt für einige Sekunden in der großen Satteltasche an der Seite des mächtigen Tieres. Schließlich zieht er einen großen Lappen rohes Fleisch heraus und wirft es unter Einsatz beider Arme und Beine in die Luft. Blitzschnell zuckt der Schnabel des Adlers nach unten und einen Moment später hat der riesige Vogel das Fleisch auch schon verschlungen. Das Tier lässt ein letztes zufriedenes Gurren verlauten, breitet seine mächtigen Schwingen aus und ist kurze Zeit später auch schon wieder am Himmel verschwunden.
»Jetzt lasst uns erst einmal reingehen‹‹, schlägt Claras Vater vor und macht eine einladende Geste, »Es gibt sicherlich einiges zu erzählen.‹‹

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