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7. Kapitel - Monheim | CrayZ

  • Autorenbild: Tim J. R. Ufer
    Tim J. R. Ufer
  • 19. Juli 2021
  • 7 Min. Lesezeit

Wir fahren so lange weiter, bis der eiskalte Fahrtwind jedes noch so kleine bisschen Wärme aus unseren Gliedern gerissen hat. Bereits seit über einer Stunde haben wir die Stadt hinter uns gelassen und düsen nun über einen vollkommen verlassenen Highway durch die tote Mondlandschaft. Am Horizont schiebt sich langsam die glühende Sonnenkugel aus den Schatten der Nacht hervor und färbt den dunklen Himmel violett.

Endlich verlangsamt Clara die Geschwindigkeit, zieht an den Straßenrand und bleibt schließlich stehen. Mit einem letzten Knattern und Stöhnen erstirbt der Motor. Von einem Moment auf den nächsten umschließt uns vollkommene Stille.

»Ich denke, wir sind ihm erstmal entwischt‹‹, sagt Clara, während wir beide mit steifen Gliedern von der Maschine klettern.

Mein gesamter Körper ist taub vor Kälte und von der unsanften Landung in dem Dornengestrüpp zerkratzt. Außerdem knurrt mein Magen. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich seit dem reichhaltigen Frühstück gestern bei Socke keine anständige Mahlzeit mehr zu mir genommen habe. Zwar gab es auf dem Death-Metal-Konzert reichlich Rohkost und vegane Snacks, aber ich habe nur dankend abgelehnt. Für mich ist es kein Wunder, dass die Bandmitglieder nach und nach zu Zombies geworden sind. Bei dem Ernährungsstil!

»Lass uns was essen‹‹, meint Clara als habe sie meine Gedanken gelesen und nimmt ihren Rucksack ab. Sie holt eine dicke Wolldecke heraus und breitet sie auf dem Boden neben der Straße aus. Ich packe währenddessen die Brötchen aus, die Socke mir vor einem Tag auf meine Reise mitgegeben hat.

»Hier‹‹, sagte ich und reiche Clara ein Brötchen, nachdem wir es uns beide auf der kuschelig-warmen Decke gemütlich gemacht haben. Dankend nimmt sie das Essen entgegen und wenige Augenblicke sitzen wir bedächtig schmatzend nebeneinander und sehen der Sonne bei ihren ersten vorsichtigen Schritten über den Himmel zu. Hin und wieder setze ich das Brötchen in meiner Hand ab und nehme einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche, die der Alte mir ebenfalls gegeben hat.

»Wo fahren wir jetzt hin?‹‹, will ich schließlich wissen, nachdem wir beide unser Brötchen restlos verputzt haben und nur noch dasitzen und stumm den Sonnenaufgang genießen.

»Wir folgen der roten Linie‹‹, erwidert Clara tonlos. Der Schock über den plötzlichen Überfall auf ihre Wohnung scheint ihr noch immer in den Gliedern zu stecken.

»Aber vorher statten wir noch meinem Vater einen Besuch ab‹‹, fügt sie schließlich hinzu und auf einmal sehe ich Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Ich bilde mir sogar ein, ein kleines Lächeln über ihre Lippen huschen zu sehen.

»Wieso das? Kann er uns helfen?‹‹, frage ich hoffnungsvoll.

»Ja, ich denke schon‹‹, sagt Clara und blickt mir direkt in die Augen. Keine Zweifel mehr: Da ist wieder dieses spöttische Lächeln, dass ich bereits bei unserer ersten Begegnung bei ihr gesehen habe. Dieser Moment scheint mir eine Ewigkeit her zu sein.

»Dann mal los!‹‹, sage ich und strecke meine Gliedmaßen. Dann stehe ich auf und helfe Clara dabei, die Decke wieder in ihren Rucksack zu stopfen. Danach besteige ich hinter Clara wieder das Motorrad. Im nächsten Moment startet sie den Motor und wir fliegen erneut über den schwarzen Asphalt hinweg, direkt auf unser Ziel zu.


Nach einigen weiteren Stunden auf dem Rücken der Maschine verändert sich die Landschaft um uns herum plötzlich drastisch. Die tote und trostlose Felslandschaft aus grauem Mondgestein weicht mit einem Mal einer mit Gras bedeckten Hügellandschaft. Hier und da sprießen einige Sträucher und Büsche aus dem Erdboden und bunte Blumen in allen Größen und Formen lassen die Landschaft erscheinen wie eine grüne Leinwand, auf die ein Künstler einige Farbspritzer gekleckert hat.

Gleich darauf macht die idyllische Graslandschaft schließlich einem riesigen Laubwald Platz. Birken und Eschen säumen gemeinsam mit Kastanien und weiteren Nussbäumen die Straße. Fassungslos betrachte ich unsere vor Leben strotzende Umgebung. Zum ersten Mal seit meinem seltsamen Erwachen vor zwei Tagen sehe ich verspielte Vögel singend und zeternd durch die Lüfte tollen, Eichhörnchen durch das Geäst der Bäume springen und sogar ein Einhorn, dass mich mit seinen großen, braunen Augen neugierig anblickt.

Und dann sind da auf einmal die Felder! So weit das Auge reicht ist der Boden bedeckt mit gold-gelbem Getreide. Die Ähren wiegen sich sanft im Wind, als würden sie alle zu einem langsamen Walzer tanzen, dessen Melodie nur sie hören können. Hier und da erkenne ich auch das ein oder andere Bauernhäuschen in der Ferne, dass sich durch seine purpurroten Ziegelsteinfassade inmitten des goldenen Meeres aus Halmen sofort verrät.

»Das ist unglaublich!‹‹, rufe ich Clara durch den Fahrtwind zu. Sie hat den Blick nach wie vor auf die Straße gerichtet, doch sie nickt und ich spüre, dass sie lächelt.

»Diese Wichtel müssen schon einiges draufgehabt haben‹‹, sage ich und schüttele vor lauter Unglauben den Kopf. Wenn ich diese Wiesen und Felder mit der natürlichen Mondoberfläche vergleiche, die aus nichts weiter als grauem Fels und totem Stein besteht, erscheint es mir wie ein Wunder. Offensichtlich konnten die Wichtel doch noch einiges mehr, als nur Leuten an der Nase zu ziehen und hin und wieder Wasser in Wein zu verwandeln.

Schließlich lassen wir auch die Felder hinter uns und auf einmal sehe ich sie vor uns: Nur noch wenige Kilometer von uns entfernt thront am Fuße eines gewaltigen Berges die größte Stadt, die ich jemals gesehen habe!

Riesige Türme aus glitzerndem Metall und buntem Glas strecken ihre Spitzen zum Himmel empor. Prachtvolle Kuppeln aus schneeweißem Marmor wölben sich zwischen gigantischen Bauwerken aus schwarzem Granit. Neben diesen Gebäuden, die wohl Museen, Kirchen und Büros beherbergen, sitzen noch tausende kleinere Wohngebäude dicht an dicht gedrängt, nur getrennt durch die zahlreichen Straßen, Wegen und Gassen, welche sich durch die gesamte Stadt ziehen, wie ein filigranes Spinnennetz.

Zur Rechten der gigantischen Metropole erstreckt sich ein großer, langgezogener See. Das saphirblaue Wasser funkelt im Licht der frühen Mittagssonne wie eine mit tausenden Diamanten gefüllte Schatzkammer. Am Rande des Sees liegen mehrere dutzend Segelschiffe in den verschiedensten Größen und Farben in einer seichten Bucht sicher vertäut.

»Darf ich vorstellen‹‹, meint Clara als wir nur noch wenige hundert Meter von dem riesigen Eingangstor der Stadt entfernt sind, »Das ist Monheim, die Hauptstadt auf dem Mond.‹‹

Ich bin sprachlos. Ich hätte niemals gedacht, dass es auf dem Mond eine richtige Hauptstadt gibt. Gleichzeitig strömt ein neues Gefühl der Hoffnung durch meinen Körper.

»Wenn es eine richtige Hauptstadt mit eigenen Behörden gibt, dann könnten wir dort bestimmt auch Hilfe holen‹‹, denke ich bei mir, »Vielleicht sollten wir den Einbruch der letzten Nacht einfach bei der Polizei melden. Außerdem haben die eventuell eine Ahnung, was mit mir passiert ist. Vielleicht stellt sich heraus, dass es eine Vermisstenanzeige über mich gibt und sie genau wissen, wer ich bin!‹‹

Mein Herz beginnt höher zu schlagen.

»Ja, so machen wir das‹‹, überlege ich fröhlich und male mir bereits aus, wie ein dicker Polizist in Uniform mir erzählt, dass es ganz normal sei, ohne Erinnerung mitten auf dem Mond aufzuwachen.

»Kommt ständig vor‹‹, höre ich die Stimme des Mannes bereits laut und deutlich vor mir, »Is ganz normal. Komm mein Junge, wir haben hier alles was du über dich wissen musst. Zuerst einmal, dein richtiger Name lautet…‹‹

»Was zur Hölle ist denn hier passiert?‹‹, entfährt es mir plötzlich und ich schrecke aus meinen Tagträumereien hoch. Wir haben das große Eingangstor passiert und befinden uns nun auf der breiten Hauptstraße, welche direkt zum Herzen der Stadt führt.

»Tja‹‹, erwidert Clara und seufzt, »Monheim ist leider nicht mehr das, was es früher einmal war.‹‹

Jetzt erst fällt mir auf, dass viele der prachtvollen Gebäude zur Hälfte eingestürzt und mit wilden Ranken überwuchert sind. Anstelle der intensiven Geruchsvielfalt einer Großstadt schlägt uns ein kalter, unfreundlicher Wind entgegen und die Straßen sind menschenleer. Überall um uns herum herrscht Totenstille.

»In Monheim war alles am schlimmsten, nachdem das Schwarze Loch plötzlich angefangen hat, verrückt zu spielen. Es gab Angriffe auf die Stadt. Viele Menschen wurden getötet oder verschleppt‹‹, erklärt Clara-Justine. Ein Anflug von Trauer liegt in ihrer Stimme.

»Die meisten Menschen sind in dieser Zeit in die kleineren Dörfer geflohen oder halten sich noch in irgendwelchen unterirdischen Bunkern versteckt. Sie haben Angst vor den Dingen, die hier draußen geschehen.‹‹

»Aber was sind das denn nun für Dinge?‹‹, möchte ich endlich wissen. Ich habe es satt, ständig von allen darüber im Dunkeln gelassen zu werden, was hier eigentlich vor sich geht.

»Ich erzähle dir alles, sobald wir bei meinem Vater sind. Hier draußen ist es nicht sicher‹‹, erwidert Clara ernst. Kurz öffnet öffne ich den Mund, um ihr zu widersprechen und jetzt gleich eine Antwort zu fordern, aber mir bleiben die Worte im Halse stecken. Aus dem Augenwinkel habe ich eine Bewegung auf den Dächern über uns bemerkt. Unwillkürlich schlinge ich meine Arme etwas fester um Claras Taille und lasse meinen Blick über die verdächtigen Dächer schweifen.

Nichts.

So sehr ich mich auch anstrenge, kann ich nichts Ungewöhnliches entdecken. War wohl nur eine Einbildung.

Mein Griff entspannt sich wieder etwas und ich schließe kurz die Augen, um tief durchzuatmen. Der kühle Fahrtwind streift mir sanft über das Gesicht. Außer dem Knattern des Motors ist nichts zu…

Da!

Das Geräusch eines herabfallenden Dachziegels reißt mich aus meinen Gedanken. Sofort öffne ich meine Augen wieder und werfe meinen Kopf nach rechts. Ich sehe gerade noch wie ein langes, schwarzes Bein hinter einem Schornstein verschwindet.

»Clara, fahr schneller! Wir müssen hier weg!‹‹, rufe ich durch den pfeifenden Fahrtwind und tippe Clara-Justine von hinten aufgeregt auf die Schulter. Panik erhebt sich wie ein wildes Tier in meiner Magengrube und langt mit seinen scharfen Krallen nach meinem Brustkorb.

Offensichtlich hat sie mich durch den starken Gegenwind nicht richtig verstanden, denn jetzt drosselt Clara das Tempo und dreht leicht den Kopf zu mir: »Was ist denn los? Stimmt irgendwas nicht?‹‹

In diesem Moment gefriert das Blut in meinen Adern zu Erdbeereis. Mechanisch hebe ich meinen rechten Zeigefinger und deute auf das Dach des Hauses direkt neben uns. Clara folgt meinem Blick mit ihren Augen.

Dann drückt sie das Gaspedal durch!

Die Reifen drehen durch, schrabben einige Augenblicke hilflos über den Asphalt, wobei sie ein schmerzerfülltes Jaulen von sich geben, und im nächsten Moment werde ich durch den Ruck der Beschleunigung beinahe rückwärts aus meinem Sitz geschleudert. In letzter Sekunde klammere ich mich an Claras Taille fest und wir düsen in einem Affenzahn voran.

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