4. Kapitel - Veganer Zombie-Death-Metal | CrayZ
- Tim J. R. Ufer

- 19. Juli 2021
- 9 Min. Lesezeit
Beschwingten Schrittes marschiere ich die verlassenen Straßen entlang. Wie der Alte es prophezeit hat, ist die kleine Stadt um mich herum vollkommen ausgestorben. Außer mir ist keine Menschenseele unterwegs. Zugegebenermaßen fühle ich mich dabei etwas unbehaglich. Trotzdem: Je früher ich mein Gedächtnis wieder zurückerlange, desto besser!
Ich seufze. Immerhin hat mir der Alte ein paar belegte Brötchen und eine Flasche Wasser mit auf den Weg gegeben. Außerdem verleiht mir das stählerne Samuraischwert, das ich mir mit einem Strick provisorisch um die Hüfte geschnallt habe, zusätzlichen Mut.
Was genau ich am Ende der roten Linie finden werde, wollte Socke mir nicht verraten. Er meinte nur, ich werde es schon erkennen, wenn ich angekommen sei. Und, dass es gefährlich sein würde. Was auch immer das heißen soll. Aber immerhin irre ich nicht mehr ziellos umher, sondern habe jetzt ein klares Ziel vor Augen!
Augenblicklich hebt sich meine Stimmung. Ich beginne, eine fröhliche Melodie zu pfeifen, während mir ein sanfter Wind durch die Haare fährt und die kleinen, putzigen Häuserreihen an mir vorbeiziehen. Ich atme den süßen Sauerstoff ein und genieße dabei das angenehme Prickeln der Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht.
In diesem Zustand fällt mir der bittere Orangenduft, der auf einmal in der Luft liegt, überhaupt nicht auf. Auch die schwarz vermummte Gestalt, die mir schon seit einigen Häuserblocks folgt, bemerke ich nicht.
Dann halte ich plötzlich inne.
Etwas unerwartetes ist soeben an mein Ohr gedrungen. Ein leises Geräusch, nicht viel mehr als ein Wispern, noch sehr weit entfernt. Neugierig laufe ich weiter in die Richtung, aus der das Geräusch stammt. Mit jedem Schritt wird es ein wenig lauter.
Ich runzle die Stirn. Die Töne, die da an meinen zarten Gehörgang dringen, klingen so, als wäre gerade jemand damit beschäftigt, ein Stück Blech mit einer Kettensäge zu durchtrennen. Dazu vernehme ich unterschwellig ein Wummern wie von einer Horde Höhlenmenschen, die mit großen Steinbrocken auf einen hohlen Baumstamm eindreschen.
Es läuft mir kalt den Rücken herunter. Ein paar Schritte weiter mischt sich noch ein weiteres, unheilverkündendes Geräusch in den qualvollen Brei aus Schallwellen. Ein schmerzerfülltes Schreien, nur hin und wieder unterbrochen durch ein Röcheln, das mich sehr an ›the walking dead‹ zurückerinnert.
Da! Wieder etwas, woran ich mich erinnere! Trotz der grauenhaften Geräuschkulisse stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Furchtlos stapfe ich weiter meines Weges, bereit mich dem zu stellen, was auch immer diese schrecklichen Laute von sich gibt.
Vor einer alten, eingefallenen Lagerhalle halte ich an. Die Geräusche sind mittlerweile zu einem regelrechten Grollen angeschwollen. Das dumpfe Wummern hat sich in ein ohrenbetäubendes Hämmern verwandelt und bei jedem Schlag erzittert mein ganzes Skelett. Die kreischenden Kettensägengeräusche werden jetzt nur noch übertönt von den apokalyptischen Schreien, die ununterbrochen an mein Ohr schallen.
»Da wird doch einer gegrillt!‹‹, rufe ich laut gegen die Hallenwand, um mir selbst durch den Klang meiner eigenen Stimme etwas Mut zu machen.
Es funktioniert nicht.
Der Schweiß steht mir kalt auf der Stirn. Vor meinem inneren Auge male ich mir bereits die schrecklichen Szenen von Folter und Mord aus, die im Inneren der Halle auf mich warten. Auf wackeligen Beinen nähere ich mich dem kleinen Seiteneingang. Einige Sekunden stehe ich wie festgenagelt davor, unfähig mich zu bewegen. Dann fasse ich mir ein Herz, greife mit zitternden Fingern an die Klinke und öffne die Tür.
Sofort schlägt mir der unsägliche Gestank von abgestandenem Zigarettenqualm wie eine Faust ins Gesicht. Ich gerate ein wenig ins Wanken und meine Augen fangen an zu tränen. Trotzdem nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und stolpere hustend ins Innere der Lagerhalle.
Drinnen ist es pechschwarz. Nur links von mir zucken im Takt der apokalyptischen Schläge immer wieder weiße und rote Lichtblitze durch die Luft. Direkt vor mir türmen sich mehrere riesige Kistenstapel hoch wie eine Wand. Die Geräuschkulisse hier drinnen ist so ohrenbetäubend laut, dass mir der Start einer Rakete direkt neben meinem Ohr verglichen damit vermutlich nur wie ein leises Rauschen vorgekommen wäre. Obwohl ich mich um das Wohl meiner Trommelfelle sorge, möchte ich nun nicht mehr klein beigeben. Immerhin habe ich es schon so weit geschafft!
Mit ein paar letzten, stolpernden Schritten nach links lasse ich die Kistenstapel hinter mir. Jetzt erblicke ich endlich die Quelle des Höllenlärms. Und das Wort grausig wird der Atmosphäre dieser Szene nicht einmal annähernd gerecht.
Die gesamte Halle ist vollgepackt mit einem tobenden Mob. Bestimmt tausend Menschen in pechschwarzer und zerrissener Kleidung stehen dicht an dicht gepresst, wobei sie laut grölen und ihre Hände mit abgespreiztem kleinen Finger und Zeigefinger zum Himmel strecken. Manche der Gestalten, es sind die muskulöseren unter ihnen, haben ihre T-Shirts ausgezogen, worunter ihre mit Tattoos gepflasterten, durchtrainierten Oberkörper zur Erscheinung treten.
Sie alle haben mir (Gott sei Dank!) den Rücken zugewandt und blicken nach vorne zu der großen Bühne. Darauf stehen vier abgemagerte Gestalten. Ich kann zwar von hier hinten nicht alles erkennen, doch die vier Wesen sehen auf jeden Fall nicht gesund aus.
Der Vorderste von ihnen ist offensichtlich die Ursache für das apokalyptische Röcheln und Schreien, dass mir noch immer einen Schauder nach dem anderen über den bereits schweißnassen Rücken jagt. Wie ein Flummi springt das dürre Kerlchen umher und schreit sich die Lunge aus dem Hals, direkt in das Mikrofon in seiner Hand. Seine Haut spannt sich ledern über sein hervorstechendes Skelett und seine Augen quellen bei jedem seiner Schreie unnatürlich weit aus seinen Augenhöhlen hervor.
Die Gestalt direkt daneben sieht noch unappetitlicher aus. Vor sich hält sie eine knochenweiße E-Gitarre, die dem Anschein nach wohl einer menschlichen Wirbelsäule nachempfunden ist. Darauf schrubbt die Gestalt mit ihren ausgemergelten Fingern herum, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht trifft das für den Gitarristen sogar zu, denn nun sehe ich, dass ihm ein stattlicher Teil seines Gesichtes fehlt.
Hinter dem Gitarristen hockt die dritte Gestalt im Bunde an einem gigantischen Schlagzeug, an dem mehr Trommeln angebracht sind, als ich zählen kann. Mit zwei langen Mohrrüben bewaffnet, drischt der Zombie darauf ein. Ab und zu meine ich zu sehen, wie er eine der Mohrrüben kurz zum Mund führt und knirschend ein Stückchen davon abbeißt.
Ich kann es nicht fassen. Ich bin mitten in das Konzert einer Deathmetal Band bestehend aus Zombie-Veganern geraten!
»Hey du!‹‹, reißt mich plötzlich eine Stimme direkt neben meinem Ohr aus meinen Gedanken. Erschrocken drehe ich mich zu der Person herum, die mich soeben angesprochen hat.
Mir fällt beinahe mein Unterkiefer auf die Füße. Blut schießt in meinen Kopf und ich spüre, wie sich mein Zittern sogar noch verstärkt. Vor mir steht das schönste Mädchen, das mir je über den Weg gelaufen ist!
Ihr langes, schwarzes Haar ist ein wenig verstrubbelt und fällt ihr in Strähnen ins Gesicht. Darunter kommen zwei smaragdgrüne Augen zum Vorschein, die mich so unverblümt anstrahlen, dass mir unbehaglich wird. Die Lippen des Mädchens sind schmal und zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
Kurz wandert mein Blick weiter abwärts. Diese Kurven!
Energisch reiße ich meinen Blick von den perfekten Brüsten los und versuche mich auf die Augen des Mädchens zu konzentrieren.
»Bist du neu hier? Ich hab dich in der Stadt noch nie gesehen!‹‹, ruft das Mädchen aus voller Kehle, obwohl sie direkt neben mir steht. Trotzdem verstehe ich ihre Worte durch den tosenden Lärm kaum.
Unsicher stammele ich etwas vor mich hin, was vermutlich selbst in einer Umgebung vollkommener Stille unverständlich gewesen wäre. Fragend blickt das Mädchen mich an und kommt noch ein Stückchen näher an mich heran, um mich besser verstehen zu können. Mein Herz macht einen Satz.
»Ich heiße Nik‹‹, rufe ich das intelligenteste, was mir in dieser Situation einfällt.
»Cool! Ich heiße Clara-Justine. Du kannst mich aber auch einfach Clara nennen!‹‹, brüllt das Mädchen namens Clara und wippt mit ihrem Kopf im Takt der Musik.
»Ähhh…‹‹, versuche ich die Konversation am Leben zu erhalten, »Bist du öfter auf so Konzerten, Clara?‹‹ Ich deute mit dem Zeigefinger auf den Boden vor mir.
»Ja, man! Das sind die Verwesenden Kohlköpfe, Alter! Die darf man doch nicht verpassen!‹‹, antwortet Clara-Justine, jetzt in normaler Lautstärke. Die Musik ist plötzlich verstummt.
Dann setzt der Gitarrist wieder ein. Er spielt eine gleichbleibende Tonfolge, sehr schnell und sehr laut. Ich spüre, wie die Spannung im Saal steigt. Dann geht ein Donnern durch die Halle, als der Schlagzeuger einen einzigen apokalyptischen Schlag auf seiner Trommel zum Besten gibt.
Der Sänger beginnt jetzt mit einem wütenden Sprechgesang. Seine Stimme ist durchdrungen von abgrundtiefem Hass. Die ganze Band scheint sich nur schwer zurückhalten zu können, während der Geräuschpegel langsam wieder in die Höhe klettert.
»Was passiert hier gerade?‹‹, frage ich unsicher. Die Menge vor mir wird immer unruhiger, auch Clara-Justine neben mir beginnt, aufgeregt auf ihren Zehenspitzen zu wippen.
»Das. Ist der Breakdown!‹‹, sagt Clara mit einem verschwörerischen Grinsen auf den Lippen.
»Was ist denn…‹‹, will ich fragen, doch in diesem Moment werden wir plötzlich von der Menge vor uns heftig zurückgeschoben. In der Mitte der Halle öffnet sich eine riesige, kreisrunde Fläche, in der nur vereinzelt schwarz vermummte Gestalten umherspringen und seltsame Tänze aufführen. Einige von ihnen tragen grausige Totenmasken, andere sind halbnackt und trommeln sich in wütender Ekstase mit der den Fäusten auf die Brust.
»Los! Schnell in die Moshpit!‹‹, ruft Clara und ist einen Moment später bereits in dem dichten Gedränge vor uns verschwunden. Fassungslos blicke ich ihr hinterher. Für eine Sekunde wird es nochmals komplett still im Saal.
Dann. Explodiert. Die Halle!
»Sowas habe ich noch nie erlebt‹‹, gestehe ich als Clara und ich nach dem Konzert noch gemütlich auf einer Steinmauer neben der Lagerhalle sitzen. Es ist mitten in der Nacht. Die meisten Besucher sind bereits gegangen und trotz der späten Stunde wirkt die Stadt nun nicht mehr ganz so verlassen um uns herum. Hier und da brennen noch einige Lichter hinter den Fenstern der Häuser und vereinzelte Grüppchen betrunkener Metal-Fans ziehen grölend durch die Straßen.
»Die Band ist der Hammer, stimmt´s?‹‹, meint Clara-Justine und strahlt mich an. Meine Ohren schmerzen immer noch und die Musik hat bei mir heftige Kopfschmerzen verursacht.
»Ja, echt mega!‹‹, antworte ich und versuche glaubwürdig zu klingen, »Ist auch voll mein Musikgeschmack.‹‹ Glücklicherweise scheint Clara nichts Verdächtiges an meiner Stimme aufzufallen, denn sie hat noch immer ihr umwerfendes Lächeln aufgesetzt.
»Wo kommst du eigentlich her? Du bist neu hier, oder?‹‹, fragt Clara schließlich und streicht sich beiläufig eine Strähne aus dem Gesicht. Kurz schmiert mein Betriebssystem ab.
»Ähh…‹‹, fange ich mich wieder und überlege fieberhaft, wie ich das nun am besten erkläre. Ich entschließe mich dazu, ihr einfach die Wahrheit zu sagen.
»Ich habe sozusagen meine gesamte Erinnerung verloren‹‹, stammele ich und blicke betreten zu Boden, »Ich bin gestern irgendwann mitten in der Steinwüste vor der Stadt aufgewacht und ein Hamster mit einem Helm hat mich hierhergeführt.‹‹
»Oh. Sag bloß, du hast den verrückten Alten getroffen‹‹, meint Clara und schaut mich mitleidsvoll an. Ich schmelze unter ihrem Blick dahin.
»Naja, er hat mir diese Karte hier gegeben‹‹, antworte ich nur und reiche Clara das gefaltete Stück Papier, das mir Socke bei meiner Abreise überreicht hat.
Clara-Justine studiert die Karte einige Augenblicke lang. Dabei ist ihre Miene unergründlich.
»Er hat dir gesagt, du sollst dieser roten Linie hier folgen?‹‹, fragt Clara und schaut mich ernst an. Ich nicke.
»Socke meinte, dort bekomme ich vielleicht mein Gedächtnis zurück.‹‹
Das Mädchen wirft nochmal einen Blick auf die Karte und faltet sie dann zusammen. Auf ihrem Gesicht zeichnet sich nun eine Mischung aus Unglauben und Überraschen ab.
»Was hast du denn?‹‹, will ich endlich wissen.
»Diese rote Linie‹‹, meint Clara-Justine leise und ihre smaragdgrünen Augen sind dabei direkt auf mich gerichtet, »Sie führt zu dem geheimnisvollsten und gefährlichsten Ort, den es auf dem Mond gibt. Der Alte hat wohl vollends den Verstand verloren. Diese Reise ist viel zu gefährlich!‹‹
»Du meinst, ich soll einfach so aufgeben?‹‹, frage ich aufgebracht und auf einmal spüre ich, wie Wut in mir aufkeimt, »Da ist ein Loch in meinem Kopf, Clara! Ich brauche meine Erinnerungen wieder! Ich weiß ja nicht mal meinen eigenen Vornamen!‹‹
»Aber ich dachte, du heißt Nik‹‹, erwidert Clara verwirrt und ein wenig beleidigt.
»Der Name ist doch nur ausgedacht!‹‹, antworte ich verzweifelt und deute auf mein T-Shirt. Selbst im schwachen Licht der Straßenlaternen sind die drei Buchstaben noch gut zu erkennen. Heiße, salzige Flüssigkeit schießt mir plötzlich in die Augen.
»Weißt du, wie es ist, nicht zu wissen, wer man selber überhaupt ist?‹‹, frage ich schluchzend und im nächsten Moment werde ich von den Tränen überwältigt. Zitternd und weinend sitze ich da.
Auf einmal fühle ich eine warme, tröstende Hand auf meiner Schulter. Clara zieht mich zu sich heran und drückt sich an mich. Mit ihrer Hand streichelt sie sanft über meinen Rücken.
Augenblicklich spüre ich, wie die Last auf meinen Schultern schwächer wird. Meine Tränen versiegen und schon bald hört auch mein Körper auf zu zittern. Fast wünsche ich, der Heulkrampf würde mich erneut packen, denn nun lässt auch Clara von mir ab und schaut mich traurig an.
»Ich muss zu diesem Ort‹‹, schniefe ich. Auf einmal fühle ich mich ausgebrannt und erschöpft.
»Okay‹‹, antwortet Clara mit ruhiger Stimme, »Aber zuerst musst du dich ausruhen. Komm mit, du kannst bei mir pennen.‹‹ Mein Herz beginnt, höher zu schlagen.
»Wirklich?‹‹, frage ich hoffnungsvoll und schaue auf.
»Auf dem Sofa, versteht sich‹‹, fügt sie mit einem Grinsen hinzu. Betreten blicke ich zu Boden. Offensichtlich ist Clara nicht entgangen, wie ich sie die ganze Zeit angaffe. Trotzdem bin ich froh, nicht auf der Straße schlafen zu müssen.
»Danke‹‹, sage ich ernst und erwidere verlegen ihren Blick. Dann stehen wir auf und ich folge ihr durch die verlassenen Straßen zu ihrem Haus.
Wir beide sind so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir nicht die dunkle Gestalt bemerken, die uns unauffällig in den Schatten Gesellschaft leistet.

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