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23. Kapitel - Überraschende Erinnerungen | CrayZ

  • Autorenbild: Tim J. R. Ufer
    Tim J. R. Ufer
  • 19. Juli 2021
  • 15 Min. Lesezeit

Wie betäubt stehe ich da. Starre auf die Stelle, an der vor wenigen Minuten noch Clara gestanden und mich mit ihren leuchtend grünen Augen angestarrt hat. Ich bin unfähig mich zu bewegen, geschweige denn einen Plan zu schmieden. Stattdessen lausche ich dem Pfeifen des Windes und meinem eigenen, noch immer rasenden Herzen.

»Nik?‹‹, fragt Torben und fasst mir vorsichtig an die Schulter. Einige Sekunden lang reagiere ich überhaupt nicht. Betrachte mich selbst noch immer aus der Perspektive eines unbeteiligten Zuschauers. Dann endlich kehre ich in meinen Körper zurück und begegne Torbens Blick.

»Was willst du tun?‹‹, fragt Thorsten. Die Brüder mustern mich besorgt.

»Eine gute Frage‹‹, stelle ich fest, »Wisst ihr, woran man eine gute Frage erkennt?‹‹

»Daran, dass man keine Antwort darauf weiß?‹‹, fragen Thorsten und Torben wie aus einem Munde.

Kurz starre ich die beiden verdattert an. Dann sage ich schulterzuckend: »Vielleicht seid ihr zwei ja doch noch nicht ganz verloren.‹‹ Thorsten und Torben grinsen und klatschen ab.

Ich bin hingegen schon wieder vollständig in Gedanken vertieft. Was will ich tun? Nein, bei genauerem Überlegen ist das vielleicht doch keine so gute Frage. Ich weiß genau, was ich tun will. Clara hat mich betrogen. Von Anfang an! Sie hat die ganze Zeit nur mit mir gespielt. Mich manipuliert, mich benutzt.

Und doch hat sie mich schlussendlich gewarnt. Zwar ein wenig spät für meinen Geschmack, aber der Wille zählt ja bekanntlich. Außerdem wird mir bei dem Gedanken daran, dass Clara etwas zustoßen könnte noch übler als durch das abscheuliche Parfüm des Killer-Staubsaugers.

Ich ertappe mich dabei, wie ich mich einige Wochen zurückerinnere. An unsere erste Begegnung auf dem Konzert. Unsere Flucht vor den Silberrückenpfeilgiftninjas. Unsere kurze, aber sehr prägende Zeit als Gefangene der Echsenmenschen. Es kommt mir so vor, als sei all das schon Ewigkeiten her.

»Nik, ist alles in Ordnung?‹‹, fragt ich Torben, »Ich will dich ja zu nichts drängen, aber wenn wir Clara retten wollen, dann läuft uns langsam die Zeit davon.‹‹

»Du willst sie doch retten, oder?‹‹, fügt er unsicher hinzu.

»Ja, Torben‹‹, antworte ich mit fester Stimme. Den Griff meines Schwertes halte ich so fest umklammert, dass meine Faust zittert.

»Wir werden diesen Wahnsinn ein für alle Mal beenden!‹‹


Wie zerfallen der Schwarze Tempel tatsächlich ist, fällt mir erst so richtig auf als wir direkt davorstehen. Das Wort Ruine trifft es nicht einmal annähernd. Die weiße Außenfassade ist brüchig und an mehreren Stellen fehlen große Teile der Wand. Das Dach des kuppelartigen Tempels ist eingefallen, sodass der Wind ungehindert durch die Innenräume fegt. Insgesamt ist von dem ehemals prachtvollen Bauwerk nicht mehr viel übriggeblieben.

»Ich kann es kaum erwarten, diesem Drecksgerät mit meinem Spaten eins über die Rübe zu geben‹‹, murmelt Torben grimmig, während wir die wenigen, abgetretenen Treppenstufen zum Eingangstor des Tempels emporsteigen.

»Du hast meinen Segen dazu, aber erst, wenn wir Clara wohlbehalten wiederhaben‹‹, entgegne ich ernst. Obwohl das Erscheinungsbild des Schwarzen Tempels alles andere als furchteinflößend wirkt, ist mir doch mulmig zumute. Immerhin bin ich gerade im Begriff, dem Monster aus meinen Albträumen das Tor in meine Welt zu öffnen.

»Hört ihr das auch?‹‹, fragt Thorsten auf einmal und bleibt stehen. Wir haben mittlerweile die breite Flügeltür erreicht, welche den Eingang ins Innere des Gebäudes markiert.

Erst runzele ich nur verständnislos die Stirn. Doch dann höre ich es auch: Ein fernes, unterschwelliges Summen. Die Schwingungen sind so tief, dass ich sie mit meinem Gehör beinahe nicht erfassen kann. Doch nun, da ich darauf achte, spüre ich, dass mein gesamtes Skelett beinahe unmerklich vibriert. Ansonsten ist es um uns herum leichenstill.

Ich starre durch das aufgebrochene Eingangsportal, welches schief in seinen Angeln hängt. Das tiefe Summen scheint direkt aus der rabenschwarzen Finsternis zu kommen, welche dort auf uns wartet. Ohne zu zögern, trete ich durch das Tor und lasse mich von der Dunkelheit umarmen.

Es dauert einige Augenblicke, bis sich meine Augen einigermaßen an die düsteren Lichtverhältnisse gewöhnt haben. Die einzigen Sonnenstrahlen dringen schwach durch die mit tausenden von Rissen überzogene Decke, welche auch von hier drinnen keinen wirklich stabilen Eindruck macht.

»Besser wir beeilen uns‹‹, verleihe ich meinen Gedanken Ausdruck, »Und wehe einer von euch hat Schnupfen. Dieses Gebäude sieht so aus, als könne es beim nächsten Schnäuzer in sich zusammenfallen.‹‹

»Hoffen wir, dass es noch für ein paar Minuten standhält‹‹, erwidert Thorsten, der ebenfalls skeptisch die großen Lücken in der Decke über uns begutachtet.

Mit jedem Schritt, den wir uns weiter in die Tiefen des Tempels wagen, nimmt die Intensität des Summens zu. Schon bald ist es zu einem kraftvollen Brummen angewachsen, auf das jeder Monstertruck neidisch wäre. Die Schwingungen sind so mächtig, dass mein ganzer Körper in ihrem Takt erzittert.

»Der Gesang des Schwarzen Loches‹‹, flüstert Torben ehrfürchtig, »Die Moorhexe hat uns davon erzählt, aber ich habe es immer nur für eine dumme Geschichte gehalten.‹‹

»Ist es gefährlich‹‹, frage ich und betrachte besorgt meine zitternden Hände. Selbst mein Herzschlag scheint sich jetzt an den Takt der schaurigen Melodie angepasst zu haben.

»Finden wir es heraus‹‹, entgegnet Thorsten und stapft tapfer voran. Dabei schultert er seinen Spaten als wäre dies ein ganz normaler Ausflug ins Moor. Eins muss ich den Zwillingsbrüdern lassen: An Mut mangelt es ihnen nicht.

Für die nächsten paar Minuten schleichen wir schweigend durch die dunklen Tunnel und Hallen des Tempels. Überall erkenne ich in der Finsternis die schattenhaften Umrisse von riesigen, stillgelegten Maschinen, deren Zweck und Wirkungsweisen mein technisches Verständnis bei weitem übersteigen. Die meisten von ihnen sind an große, rechteckige Bildschirme angeschlossen.

Vor den Maschinen und den Bildschirmen ragen mächtige Steuerkonsolen mit hunderten, verschiedenfarbigen Knöpfen, Schaltern und Hebeln aus dem Boden. Mein Respekt vor den Nazis nimmt mit jedem Schritt zu. Es war sicherlich keine leichte Aufgabe, das Schwarze Loch unter Kontrolle zu halten und dabei seine Energie zu melken wie die saftige, fettreiche Milch einer Kuh. Kein Wunder, dass es irgendwann einmal zu einer Katastrophe kommen musste.

Schließlich erreichen wir das Ende der vielen aufeinanderfolgenden Tunnel und Gänge. Vor uns erhebt sich eine mannshohe, zentimeterdicke Eisentür. Wie auch das Eingangsportal des Tempels ist die Tür aufgebrochen und weit genug geöffnet, dass zwei Personen leicht nebeneinander hindurch passen würden. Oder eine Person und ein Staubsauger. Der Gesang des Schwarzen Loches ist mittlerweile zu einem ohrenbetäubenden Grollen gereift, welches mir die Haare im Nacken zu Berge stehen lässt.

»Hinter dieser Tür muss der Kuppelraum liegen‹‹, flüstert Torben andächtig, während sein Blick über das mächtige Eisen streift.

»Der Kuppelraum bildet das Herzstück des Tempels‹‹, erklärt Thorsten, dem meine fragende Miene aufgefallen ist, »In seiner Mitte befindet sich das Schwarze Loch.‹‹

»Und das Tor‹‹, fügt Torben und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Nervös klammere ich mich fester an den Griff meines Schwertes. Mein Herz schlägt so schnell als hätte ich gerade einen Sprint hinter mir. Ich kann allerdings nicht eindeutig sagen, ob es an der Aufregung liegt oder nur an dem pulsierenden Summen des Schwarzen Loches, welches allgegenwärtig die Luft erzittern lässt. Ich bin so aufgeregt, dass ich mir sogar einbilde, noch einen zweiten, schwächeren Herzschlag in mir zu spüren. So als würde mein eigenes Herzklopfen in meinem Brustkorb nachhallen.

Ich schüttele den Gedanken schnell ab und atme ein letztes Mal tief durch. Dann hebe ich meine blutrote Klinge, bereit mich meinem Feind zu stellen. Vorsichtig trete ich durch das schwere Eisentor.

Der Kuppelraum macht seinem Namen alle Ehre. Der Grundriss des Raumes ist kreisrund und die Decke wölbt sich in Form einer riesigen Halbkugel zum Himmel. Hier und da fehlen einige große Teile im Gestein, sodass ich die dunkle Wolkendecke über uns erkennen kann. Es scheint ganz so, als ziehe draußen gerade ein Unwetter herauf.

Insgesamt hat die Kuppel einen Durchmesser von etwa fünfzig Metern. Staunend lasse ich meinen Blick durch den Saal schweifen. Der Boden des Raumes ist größtenteils mit kleinen, schmalen Stufen besetzt, welche zur Hallenmitte hinabführen. Dort, etwa fünfundzwanzig Meter vor uns, ragt ein kleines, unscheinbares Podest aus dem Boden. Es wäre mir vermutlich nicht einmal aufgefallen, stünde es nicht direkt in der Mitte des Raumes und wäre da nicht dieser winzige, schwarztobende Fleck auf seiner Spitze. Von einem Tor oder Ähnlichem ist nichts zu sehen.

Für einige Augenblicke bin ich so fasziniert von dem Anblick des niedlich kleinen Schwarzen Loches, dass ich die zwei Gestalten beinahe übersehe, die in den Schatten neben dem Podest stehen.

»Wie rührend‹‹, weckt mich eine blecherne Stimme aus meiner Trance, »Du bist tatsächlich erschienen, um deine Freundin zu retten.‹‹

Rudy tritt aus der Dunkelheit. In seiner Hand hält er einen schwarzen Strick, an dessen Ende sich Clara befindet. Ihre Arme sind in einer schmerzhaft aussehenden Position abgewinkelt und an den Handgelenken auf ihrem Rücken zusammengebunden. Ihr Mund ist geknebelt, doch ihre Augen, mit denen sich mich jetzt direkt anstarrt, sprechen mehr als tausend Worte: Ihr hättet nicht herkommen sollen! Verschwinde von hier, du Idiot!

Aber ich ignoriere sie und wende mich stattdessen Rudy zu: »Hier sind wir.‹‹ Das ist auch schon so ziemlich alles, was mir in diesem Moment einfällt. Immerhin habe ich noch immer keinen blassen Schimmer von dem Passwort und solange Rudy Clara gefangen hält, wäre auch ein offener Kampf keine besonders kluge Idee.

»Komm runter zu mir, John. Deine beiden Begleiter bleiben, wo sie sind!‹‹, ruft der Killer-Staubsauger in meine Richtung.

»John‹‹, murmele ich überrascht. Der Name steht auf einmal groß und fettgedruckt in meinem Kopf. Er kommt mir schrecklich bekannt vor. Wie der Name eines sehr guten, alten Freundes, den ich seit Jahren nicht gesehen habe. Bilder zucken durch meinen Kopf. Unsortiert. Fremd. Und im gleichen Moment doch irgendwie vertraut. Ich spüre die brennende Hitze von Ryu Kasai in meiner rechten Hand. Ein sengender Schmerz in meiner Brust. Noch mehr Bilder.

»Nik, geht es dir gut?‹‹, fragt Torben besorgt. Erst jetzt fällt mir auf, dass kalter Schweiß auf meiner Haut brennt und ich die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt habe. Mein Atem geht schwer und rasselnd. Dabei bebt weiterhin mein ganzes Skelett im Takt der Vibrationen, die schwer und tief in der Luft hängen.

»Nik ist nicht mein richtiger Name‹‹, presse ich atemlos hervor, »Ich heiße John.‹‹ Und in diesem Moment ergießt sich eine weitere Welle wild durcheinander gewürfelter Bilder und Gefühle in meinen Kopf. Erinnerungen an ferne Gespräche und längst vergessene Gedanken schießen mir ins Gedächtnis. Sie toben durch die Windungen meines Gehirnes und hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge. Auf einmal fühle ich mich wie ein Eindringling in meinem eigenen Kopf, als würde ich in dem Körper eines Fremden stecken.

»John!‹‹, warnt mit Rudy scharf, »Keine Spielchen mehr! Entweder du steigst jetzt hier herab oder ich lackiere den Hallenboden mit dem Blut deiner Freundin!‹‹

Das weckt mich endlich aus meiner Starre. Ich richte mich auf und bedeute Thorsten und Torben mit einer knappen Handbewegung, bei der Tür auf mich zu warten. Dann mache ich mich mit zittrigen Beinen an den Abstieg der Treppen.

Das Brummen des Schwarzen Loches ist nun so laut und präsent als käme es direkt aus meinem Kopf. Mein gesamter Körper zappelt wie ein Fisch auf dem Trockenen im Takt der hämmernden Vibrationen. Ich versuche mich mit aller Kraft dagegen zu wehren, doch dadurch erscheint meine unfreiwillige Tanzeinlage noch komischer, sodass ich mich bald dazu entschließe, die Gegenwehr einfach fallen zu lassen.

Inzwischen liegen nur noch wenige Meter zwischen mir und dem etwa kirschkerngroßen, wabernden Etwas auf dem Podest. Wieder zucken alte Erinnerungen wild durch meinen Kopf. Je mehr ich mich dem Schwarzen Loch nähere, desto heftiger wird es. Es ist als hätte jemand mir einen USB-Stick in den Schädel gerammt und würde nun tausende Daten auf mein Gehirn laden.

»Hoffentlich ist kein Virus dabei‹‹, denke ich unwillkürlich, schiebe den albernen Gedanken aber schnell beiseite.

Dann, urplötzlich ist alles vorbei. Ich trete die letzte Stufe hinab und stehe nun direkt vor Rudy und dem steinernen Podest, welches mir etwas bis zur Hüfte geht. Clara befindet sich etwas abseits, soweit von Rudy entfernt, wie es die Fesseln ihr erlauben.

Auf einmal fällt mir auf, dass das schmerzhafte Brummen in meinem Kopf verschwunden ist. Stattdessen herrscht nun auf einmal eine unheimliche Stimme. Ungläubig drehe ich mich kurz zu Thorsten und Torben herum, die noch immer am Eingang stehen. Sie sehen gespannt zu mir rüber und ihre Spaten zittern nach wie vor in ihren Händen.

»Wir befinden uns hier im Auge des Schwarzen Loches‹‹, erklärt Rudy mit ruhiger Stimme, »Ein schmaler Bereich zwischen dem Ereignishorizont und der ersten Schale seines Orbits. Du kannst es dir wie eine Art Vorhof vorstellen. Nur hier ist es möglich, ein Portal ins Innere der Singularität zu öffnen. Der Gesang des Schwarzen Loches würde das Tor an jeder anderen Stelle nämlich sofort durch seine Vibrationen zerstören.‹‹

»Und wo ist es jetzt?‹‹, frage ich nervös, »Das Portal meine ich.‹‹ Misstrauisch mustere ich den Staubsauger, der seelenruhig neben dem Schwarzen Loch steht.

»Es ist kollabiert als du hindurch gesprungen bist. Es war noch nicht bereit dazu, einen ganzen Menschen zu transportieren‹‹, entgegnet Rudy scharf, »Nebenbei gefragt, sind deine Erinnerungen inzwischen zurückgekehrt?‹‹

Der Staubsauger versucht, die Frage beiläufig klingen zu lassen. Doch ich kann die Anspannung in seiner Stimme hören. Und nun weiß ich auch, weshalb. Endlich ist mir klar, warum Rudy die Sache nicht von Anfang an selbst in die Hand genommen hat.

Ich weiß jetzt, wer ich bin.

»Lass Clara frei und ich gebe dir das Passwort‹‹, fordere ich mit fester, beinahe drohender Stimme. Dabei stelle ich mit Genugtuung fest, dass Rudys Blick immer wieder und mit offensichtlichem Unbehagen zu der Klinge in meiner Hand wandert. Jetzt spüre ich es eindeutig: Das unmerkliche Schlagen eines zweiten Herzschlags. Direkt in meiner rechten Hand.

»Weißt du was‹‹, antwortet Rudy schließlich mit übertrieben aufgesetzter Freundlichkeit, »Zur Feier des Tages genehmige ich dir deinen Wunsch. Immerhin gewinnen wir heute beide, nicht wahr? Aber denk dran: Wenn du versuchen solltest zu fliehen, kann ich euch beide noch immer ruckzuck außer Gefecht setzen.‹‹ Der Staubsauger unterstreicht seine Worte, indem er eine kleine Duftwolke ausstößt. Der bitter-süßliche Geruch von Orangen brennt mir unangenehm in der Nase.

Doch ich lasse mich davon nicht mehr aus der Ruhe bringen. Stattdessen warte ich seelenruhig darauf, dass Rudy sein Wort hält. Und tatsächlich: Der Staubsauger wendet sich um und beginnt, Claras Fesseln zu lösen. Sobald er sein Werk vollendet hat, stürmt Clara an ihm vorbei und schlingt schluchzend ihre Arme um mich. Ich spüre feuchte Tränen auf meiner Wange als sich unsere Gesichter sanft berühren.

»Du Idiot hättest nicht kommen sollen‹‹, schnieft Clara-Justine, nachdem sie sich wieder von mir gelöst hat. Für einen Moment kämpfen in meiner Brust widerstreitende Gefühle gegeneinander. Ein neues Bild ist soeben in meinem Kopf aufgetaucht.

Die Erinnerung ist klarer als die meisten anderen und mein Herz macht einen Satz, während ich es vor meinem inneren Auge betrachte. Auf dem Bild ist ein Mädchen zu sehen. Sie hat schulterlanges, blondes Haar, trägt eine zerrissene Jeans-Hose und ihre Augen sind von einem dunklen braun. Das Mädchen aus meinen Träumen (man könnte sagen, meine Traumfrau) ist umwerfend schön.

»Genug jetzt!‹‹, äußert sich Rudy ungeduldig, »Sag mir das Passwort, John!‹‹

»Ist ja gut‹‹, entgegne ich ruhig und werfe erneut einen kurzen Blick über die Schulter. Thorsten und Torben stehen noch immer auf ihrem Posten, die Spaten auf den Boden gestützt und warten auf mein Zeichen. Kurz kommen Zweifel in mir hoch, ob mein tollkühner Plan wirklich funktionieren kann. Andererseits haben wir keine große Wahl.

»Das Passwort ist fünf‹‹, sage ich schließlich mit einem Seufzer.

»Fünf‹‹, wiederholt Rudy schroff, »Fünf und weiter?‹‹

»Nichts weiter‹‹, antworte ich wahrheitsgemäß, »Das ist die Zahl, an die ich mich erinnern kann.‹‹ Jetzt da ich es ausgesprochen habe, kommt mir ebenfalls der Gedanke, dass dies doch ein recht schwaches Passwort für das Tor in eine andere Welt ist. Hilflos zucke ich mit den Schultern.

Rudy scheint für einen Moment beinahe die Beherrschung zu verlieren. Ich ziehe mir bereits den Stoff meines T-Shirts schützend ins Gesicht, um mich vor der kommenden Duftwolke zu wappnen, doch dann beruhigt sich der Staubsauger wieder.

»Nun gut. Einen Versuch ist es wert, schätze ich‹‹, meint Rudy, »Aber wehe du verarschst mich, Junge!‹‹ Der Staubsauger dreht sich herum und beginnt damit, sich an dem kleinen Podest unterhalb des Schwarzen Loches zu schaffen zu machen. Erst jetzt fällt mir auf, dass darin eine kleine, unscheinbare Schaltfläche eingelassen ist. Rudy beugt sich herunter zu den Knöpfen, drückt einige davon, dann die Zahl fünf und schließlich die Bestätigungstaste.

Es passiert. Absolut. Gar nichts.

Ein neuer Schweißfilm bildet sich auf meiner Stirn. Unsicher blicke ich über die Schulter, dann wieder zu Rudy, der nach wie vor regungslos auf das kleine, leuchtende Display starrt. Weitere Sekunden verstreichen, es könnten auch Minuten sein, in denen wir genau in dieser Position verharren.

Langsam mache ich mir Sorgen, ob meine Erinnerungen vielleicht doch noch lückenhaft sind. Was, wenn das Passwort doch aus mehr Ziffern besteht als einer einfachen Fünf? In meinem Kopf male ich mir bereits aus, wie ich den Killer-Staubsauger vor mir überwältige. Die Fähigkeiten dazu hätte ich theoretisch, dass weiß ich jetzt. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, wie ich sie aktiviere.

Rudy löst seinen Blick von der Schaltfläche und dreht sich herum. Auch er scheint unschlüssig darüber, ob er einen offenen Kampf wagen soll oder nicht. Wenn ich mich stark konzentriere, kann ich es in seinem Kopf rattern hören. Regungslos stehe ich da, jeder einzelne Muskel meines Körpers aufs Äußerste gespannt. Bereit, jederzeit loszuschlagen. Die Luft zwischen mir und dem Killer-Staubsauger knistert elektrisch.

Rudy hebt unmerklich einen seiner beiden verbliebenen Saugschläuche. Offenbar will er die Sache hier und jetzt zu Ende bringen. Die Spannung um uns herum nimmt weiter zu.

»Wartet!‹‹, ruft Clara gerade noch rechtzeitig. Im Geiste bin ich den Kampf bereits mehrmals durchgegangen. Meine Chancen stehen nicht schlecht.

»Was ist denn, Mädchen?‹‹, fragt Rudy, ohne seinen Blick von mir zu lösen. Noch immer knistert die Luft vor Anspannung. Aber halt: Das ist keine Metapher. Die Luft knistert tatsächlich!

Rudy scheint es nun auch begriffen zu haben, denn er lässt seinen Saugarm sinken. Stattdessen wirbelt er erneut herum und studiert die zuckenden Bewegungen des winzigen, in sich zusammengefallenen Sterns, der auf seinem Podest schwebt. Auch ich richte meinen Blick nun auf das Schwarze Loch. Erst jetzt fallen mir die Veränderungen daran auf. Über die ansonsten rabenschwarze Oberfläche der kleinen Kugel ziehen sich knisternd kleine, pulsierende Lichtbögen in den verschiedensten Farben.

Im nächsten Moment stolpern wir alle drei ein paar hastige Schritte rückwärts. Direkt vor uns hat sich plötzlich ein dünner Spalt in der Luft geöffnet, der mit jeder Sekunde breiter wird. Es scheint so, als hätten wir die ganze Zeit durch eine Glaswand geblickt, die nun aufbricht und eine tiefschwarze, gähnende Leere preisgibt.

Das Portal wächst weiter an, bis es groß genug ist, dass ein ganzer Trollofant hindurch gepasst hätte. Dann stoppt es auf einmal mitten in seiner Bewegung und verharrt knisternd in diesem Zustand. Das Schwarze Tor ist sieben Meter hoch, vier Meter breit und schwebt etwa einen halben Meter über dem Boden. An seinen Rändern entladen sich knisternde Lichtblitze in allen nur erdenklichen Farben.

Für einige Augenblicke bin ich so von der Erscheinung des Portals fasziniert, dass ich meinen heldenhaften Plan komplett vergesse. Glücklicherweise steht auch Rudy dermaßen unter Schock, dass ich nach wie vor das Überraschungsmoment auf meiner Seite habe. Beherzt springe ich nach vorne und schubse den Killer-Staubsauger mit all meiner Kraft in das Portal.

Rudy japst verblüfft auf, während er in die Schwärze stolpert. Er ist bereits halb darin verschwunden, als er es gerade noch schafft, sich mit seinen Armen an den Rändern des Schwarzen Tores festzuklammern. Wütend starrt er mich an. Dicke Duftwolken strömen aus seinen Saugschläuchen heraus und treiben direkt auf Clara und mich zu. Anstatt zu fliehen, vergrabe ich mein Gesicht in meiner linken Armbeuge, mache noch einen Schritt auf das Portal zu und lasse Ryu Kasai zischend durch die Luft sausen.

Rudy schreit vor Schmerzen auf. Sein linker Arm fällt leblos zu Boden und sofort zerrt ihn die Finsternis tiefer in das Portal hinein. Für wenige, quälende Augenblicke kann er sich noch mit seinem letzten verbliebenen Arm festhalten, doch dann rutscht er ab und wird schreiend von der Dunkelheit verschluckt.

Bis auf das unablässige Knistern in der Luft ist nichts mehr zu hören. Nur der wild schlagende Puls in meiner Brust und Claras flacher Atem hinter mir. Ich kann es nicht fassen. Es hat tatsächlich funktioniert! Doch meine Freude ist nur von kurzer Dauer.

»Das war dein genialer Plan?‹‹, fährt mich Clara in einer Mischung aus Wut und Entsetzen an, »Dir ist schon klar, dass er da jederzeit wieder raus kann, oder? Zusammen mit Hannibal Bond und allen anderen mörderischen Geschöpfen, die seit Ewigkeiten nur darauf warten, aus dem Inneren des Schwarzen Loches auszubrechen!‹‹

»Beruhige dich‹‹, versuche ich sie zu besänftigen, »Hilf mir lieber, dieses verdammte Ding wieder zu schließen!‹‹ Clara wirft mit einigen sehr wüsten Flüchen um sich, bis sie sich endlich dazu entschließt, mir zu helfen. Schon bald wird uns allerdings klar, dass mein Plan einen ganz entscheidenden Haken hat.

»Das Tor lässt sich nur von Innen schließen‹‹, stelle ich zähneknirschend fest und wende mich von dem leuchtenden Display unterhalb des Schwarzen Loches ab.

»Du bist so ein Idiot‹‹, quittiert Clara meinen gescheiterten Plan und blickt mich nur kopfschüttelnd an, »Jetzt werden sie nicht nur mich und meine Mutter töten. Hannibal Bond wird auch noch alles Leben auf dem Mond vernichten!‹‹

»Moooment mal‹‹, entgegne ich wütend, »Du bist doch diejenige, die uns das alles hier überhaupt erst eingebrockt hat! Du hast mich hergeführt, um mich dann gegen deine Mutter einzutauschen! Oder hast du das etwa schon wieder vergessen?‹‹

Clara öffnet den Mund, um mir eine gepfefferte Antwort entgegenzuschleudern, doch in diesem Moment erscheinen Thorsten und Torben schnaufend neben uns.

»Was bei den sieben Sumpfgöttern ist hier los?‹‹, will Thorsten wissen, während er sich schwer atmend auf seinen Spaten stützt.

»Warum ist das Portal noch offen?‹‹, fragt Torben.

»Das scheiß Tor geht nur von Innen zu!‹‹, erwidere ich frustriert, »Wir haben Hannibal Bond den Zutritt zum Mond geradewegs auf einem Silbertablett serviert.‹‹

Wütend trete ich gegen das steinerne Podest, auf dem das Schwarze Loch schwebt. Sofort bereue ich meine Handlung. Fluchend springe ich auf einem Bein, während ich mir meinen schmerzenden Fuß halte. Zu allem Überfluss beginnt es jetzt auch noch durch die Decke zu regnen und das kalte Wasser tropft mir genau ins Gesicht.

»Wir haben noch immer eine Chance, das alles zu verhindern‹‹, meint Torben plötzlich aufgeregt, »Wir können vielleicht nicht das Portal selbst zerstören, aber wir können den Schwarzen Tempel zum Einsturz bringen! Sobald hier alles in sich zusammenfällt, wird niemand mehr durch das Tor treten können.‹‹

»Ich sage das jetzt echt nur ungern, und Bruderherz, lass dir das ja nicht zu Kopfe steigen, aber ich glaube, Torben könnte recht haben‹‹, pflichtet Thorsten seinem Bruder widerwillig bei.

Nur Clara ist noch skeptisch: »Dafür bräuchten wir schon sehr viel Feuerkraft. Der Tempel ist zwar alt und zerfallen, aber so instabil ist er jetzt auch wieder nicht.‹‹

»Lass das meine Sorge sein‹‹, sage ich plötzlich und alle Augen richten sich auf mich, »Erzähl ich euch, wenn wir draußen sind. Jetzt müssen wir erstmal hier weg!‹‹ Clara nickt, schaut mich aber nach wie vor misstrauisch an.

»Dann alle raus hier! Wir haben nicht viel Zeit!‹‹, ruft Torben und stürmt gemeinsam mit seinem Bruder voran. Einen kurzen Augenblick halte ich noch den Blickkontakt mit Clara. Dann folge ich den beiden.

Das tosende Brummen des Schwarzen Lochs trifft mich wie ein Hammerschlag. Ich habe die ersten Treppenstufen erreicht. Kurz halte ich taumelnd inne, die Handflächen auf die Ohren gepresst, doch dann beiße ich die Zähne zusammen und laufe schwankend weiter.

Mein ganzer Körper zittert dermaßen, dass ich beinahe auf den schmalen Stufen ausrutsche und hinfalle, doch ich kann mich im letzten Moment mit meinen Armen abfangen. Ryu Kasai fällt klirrend neben mir zu Boden. Hinter mir höre ich Clara fluchen. Sie scheint ähnliche Probleme zu habe wie ich. Für einen kurzen Augenblick kehren die Selbstzweifel in mir zurück. Habe ich uns soeben vielleicht alle ins Verderben gestürzt?

»Nein!‹‹, denke ich entschlossen, »Ich habe Clara das Leben gerettet. Und nun werde ich uns alle retten!‹‹

Mit zitternden Händen umgreife ich mein Schwert. Sofort spüre ich die pulsierende Energie, welche von dem blutroten Stahl ausgeht. Drachenfeuer. Mein Schwert trägt nicht umsonst diesen Namen, das weiß ich jetzt. Genauso wie ich jetzt weiß, warum es mir nichts ausmacht, seine brennend heiße Klinge zu berühren.

Die Erinnerungen an mein wahres Selbst helfen mir, meine letzten verbliebenen Kräfte zu mobilisieren. Ich stehe auf, werfe einen Blick über die Schulter und sehe, dass Clara ebenfalls gestürzt ist. Schnell gehe ich auf sie zu und fasse sie an der Hand. Für einen kurzen Augenblick treffen sich unsere Blicke. Dann ziehe ich sie auf die Füße und gemeinsam rennen wir die Stufen hinauf, durch die schwere Eisentür, an den riesigen stillgelegten Maschinen vorbei, hinaus ins Freie.

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