20. Kapitel - Red Bull verleiht Flügel | CrayZ
- Tim J. R. Ufer

- 19. Juli 2021
- 12 Min. Lesezeit
Ein tiefes unterschwelliges Brummen zerrt mich weg von meinen finsteren Gedanken. Ich runzele die Stirn. Der Boden unter meinem Hintern beginnt zu vibrieren. Erst sanft, nicht mehr als ein leises Zittern, dann immer kraftvoller.
Ist das ein Erdbeben? Oder der Vorbote einer weiteren Explosion, welche die Edelsteinlinge in Gang gesetzt haben, um uns endgültig zu vernichten?
»Nik!‹‹, ruft Clara plötzlich und ihre Stimme ist dabei eine Oktavlage höher als sonst, »Sieh doch!‹‹
Erst jetzt bemerke ich, dass es um uns herum im Cockpit nicht mehr vollständig dunkel ist. Ein dünnes, weißliches Licht scheint vom Boden auszugehen. Irritiert betrachte ich den Boden unter mir.
»Die Bildschirme!‹‹, entfährt es mir und mit einem Mal wallt eine Welle der Erregung durch meinen Blutkreislauf, »Sie leuchten wieder!‹‹
»Naja, den einen Bildschirm hast du echt zermatscht, Nik, das lässt sich nicht schönreden‹‹, meint Torben nachdenklich und deutet auf den großen, zersplitterten Flachbildschirm unter meinem Hintern, »Aber der Rest scheint wieder zu funktionieren.‹‹
»Clara, probier mal, ob du das Ding neustarten kannst‹‹, sage ich hastig, nachdem ich mir kurz Zeit genommen habe, um Torbens Bemerkung mit einem bösen Blick zu quittieren. Aufgeregt krabbelt Clara zurück zu ihrem Platz am Steuerpult und betätigt den großen roten Knopf.
Sofort erstirbt das Licht der Bildschirme und erneut sind wir in rabenschwarze Dunkelheit gehüllt. Stille. Wimpernschläge vergehen. Nichts passiert.
»Wir werden sterben!‹‹, entfährt es einem völlig verängstigten Kiesling, der nun offensichtlich alle Hoffnung verloren hat. Kurz darauf fallen auch die anderen Minerale erneut in ihr steinerweichendes Heulen ein.
»Beruhigt euch doch!‹‹, rufe ich laut durch das allgemeine Gejammer, »Hört ihr das nicht?‹‹
Stille. Man kann beinahe hören, wie auf einmal zahlreiche Ohren gespitzt werden.
Da!
Ein mechanisches Klicken. Ein sanftes Rumoren in den Tiefen des stählernen Ungeheuers, nicht mehr als ein körperloses Flüstern. Dann kehrt auf einmal das Summen zurück. Es erfasst den Boden, die Wände, das ganze Cockpit und im nächsten Moment erzittert der SCHREDDER, als erwache er gerade aus einem tiefen Schlaf. Die Lichter und Lämpchen im Cockpit werden von neuem, flammendem Leben erfüllt und lassen das leidvolle Klagen der Kieslinge endgültig verstummen.
»Wir sind wieder online!‹‹, lacht Clara fröhlich und in ihren Augen brennt wieder das leidenschaftliche Feuer, welches mich immer wieder mitreißt.
»Sehen wir mal, ob wir die Kiste auch aufgerichtet bekommen‹‹, murmelt sie, mehr zu sich selbst, während sie sich konzentriert an den vielen Knöpfen und Hebeln an ihrem Platz zu schaffen macht. Und dann an uns gewandt: »Alle Mann festhalten!‹‹
Ich kann mich gerade noch in die Lehne meines Sitzes krallen, als sich der SCHREDDER auch schon mit einem ohrenbetäubend lautem Knirschen aus dem Griff seines steinernen Grabes befreit. Boden und Decke werden wieder zu Wänden und ich lasse mich unbeholfen, aber glücklich in meinen Sitz plumpsen.
Der stählerne Riese ist zurück auf den Beinen!
»Okay, wie kommen wir jetzt wieder aus diesem Loch raus?‹‹, frage ich aufgeregt. Neuer Kampfgeist erfüllt meinen Körper und ich kann es kaum erwarten, diesem hirngepressten Kohlebrocken von einem Diamanten gehörig in den Hintern zu treten.
»Ich fürchte, überhaupt nicht‹‹, trifft mich die ernüchternde Antwort von Clara, »Sie doch auf den Bildschirmen. Da schaffen wir es mit diesem Koloss niemals hoch.‹‹ Ich will etwas erwidern, doch ich belasse es bei einem Zähneknirschen. Clara hat recht. Die Grube, in die wir gefallen sind, ist bestimmt an die dreißig Meter tief.
»Ohne Flügel wird das nichts‹‹, spricht Thorsten meine enttäuschten Gedanken aus, »Wir sitzen fest!‹‹ Als die Kieslinge das zu hören bekommen, bahnt sich bei ihnen bereits wieder die nächste salzige Sintflut an. Verzweifelt versuche ich, in meinem ausgedörrten und noch immer dröhnenden Schädel einen Ausweg für unsere Situation zu finden. Doch in meinem Gehirn herrscht absolute Ebbe.
»Torben, könntest du mir mal bitte von hinten etwas zu trinken reichen?‹‹, frage ich schließlich, als ich es nicht mehr aushalte.
»Moment mal!‹‹, entfährt es Clara-Justine auf plötzlich, »Flügel… trinken… Ich glaub ich weiß, wie wir hier wieder rauskommen!‹‹
»Wirklich?‹‹, schnieft ein kleiner Kiesling hoffnungsvoll.
»Ja!‹‹, ruft sie nur, springt von ihrem Sitzplatz auf und krabbelt in den hinteren Teil des Cockpits, in welchem all unsere Vorräte sorgfältig verpackt und verschnürt lagern. Wenige Augenblicke später kehrt sie mit einem großen Karton voller blau-silberner Getränkedosen wieder. Ohne uns zu erklären, was sie da eigentlich macht, stellt sie den Karton in der Mitte des Raumes auf den Boden und greift sich eine der Dosen. Verständnislos glotze ich die zwei roten Bullen vor der glühenden Sonne an, während Clara mit einem Zischen ihr Getränk öffnet.
»Bekomm ich jetzt auch was zu trinken?‹‹, frage ich vorsichtig.
»Wir werden jetzt gleich alle was davon trinken‹‹, erwidert Clara und ihre Augen leuchten aufgeregt. »Meine Mutter hat mir Red Bull früher immer verboten, weil sie meinte, es sei zu gefährlich für ein kleines Mädchen und irgendwo muss ich ihr da auch recht geben, aber ich wollte das schon immer mal machen und ich hab gesehen, dass mein Vater uns zwei Kartons davon eingepackt hat und…‹‹, sprudeln die Worte aus ihr heraus, wie Wein aus einem frisch entkorkten Fass.
»Wovon genau redest du da eigentlich?‹‹, fragt Torben, der sich nun ebenfalls langsam um Claras mentale Gesundheit zu sorgen beginnt.
»Red Bull verleiht Flügel‹‹, meint Clara mit einem Augenzwinkern und stürzt sich in einem Zug den Inhalt der geöffneten Dose in ihrer Hand über die Lippen. Anschließend lässt sie die Dose zu Boden fallen und ihr entfährt ein langgezogener Rülpser. Angewidert hüpfen die Kieslinge ein Stückchen von ihr weg. Vollkommen verdattert starre ich meine Herzensdame an.
»Wir warten noch immer auf eine Erklärung‹‹, meint Thorsten schließlich zögernd.
Clara ignoriert ihn. Stattdessen ist sie voll und ganz damit beschäftigt, ihren eigenen Rücken abzutasten. Dabei legt sie ihre Stirn konzentriert in Falten.
»Ich verstehe das nicht‹‹, meint sie schließlich, bückt sich und hebt die leere Dose auf. Nachdenklich beginnt sie damit, die Verpackung zu studieren. Sie ist so darin vertieft, dass sie gar nicht bemerkt, wie allen Anwesenden um sie herum die Kinnlade auf die Füße fällt.
»Ähm… Clara?‹‹, versuche ich ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.
»Was denn Nik?‹‹, fragt sie entnervt, »Ich weiß auch nicht, was da los ist? Eigentlich sollte es längst funktioniert haben!‹‹
»Hat es denn funktioniert, wenn man auf einmal riesige, schwarze Engelsflügel auf dem Rücken hat?‹‹, fragt Torben verdattert. Erst jetzt bemerkt Clara, dass alle Blicke entgeistert auf sie gerichtet sind. Selbst die Kieslinge blicken mit offenen Mündern zu ihr hoch.
Endlich scheint sie zu begreifen: »Oh mein Gott! Es hat tatsächlich funktioniert!‹‹ Außer sich vor Aufregung verrenkt Clara ihren Hals und dreht sich um die eigene Achse, um die mächtigen, pechschwarzen Schwingen auf ihrem Rücken zu betrachten. Torben, Thorsten und ich machen gleichzeitig einige hastige Schritte nach hinten, um nicht aus Versehen von einem ihrer ausgebreiteten Flügel getroffen zu werden.
»Können wir jetzt auch was von dem Zeug haben?‹‹, fragt Thorsten, der gierig auf den Karton mit den restlichen Getränkedosen schielt.
»Oh, tut mir leid, selbstverständlich. Bedient euch!‹‹, erwidert Clara hastig und legt ihre Flügel eng an ihren Körper an. Dann greift sie zu dem offenen Karton auf dem Boden und beginnt, die restlichen Dosen auszuteilen.
Als das kühle Getränk meine trockene Kehle herunter rinnt, verziehe ich angewidert das Gesicht. Das Gebräu ist süßlich und hinterlässt einen seltsamen, prickelnden Nachgeschmack auf meiner Zunge. Mein Körper schüttelt sich kurz vor Ekel, nachdem ich auch den letzten Rest des Doseninhalts in meinen Rachen gekippt habe.
»Was man nicht alles fürs Überleben tut‹‹, sage ich, während ich versuche, durch häufiges Schlucken den widerlichen Geschmack in meinem Mund loszuwerden.
»Also ich find‘s lecker!‹‹, meint Torben grinsend. Dabei tastet er unablässig seinen Rücken ab. Auch ich beginne nun damit, meinen Hals zu verdrehen und um die eigene Achse zu rotieren. Auf einmal bin ich unglaublich aufgeregt. Zwar habe ich in den letzten Tagen und Wochen schon einige ausgesprochen bemerkenswerte Dinge erlebt, aber das hier ist nochmal etwas ganz anderes.
Auch wenn ich mir darüber noch nie so bewusst gewesen bin, erscheint es mir plötzlich wie das absolut Größte, einmal mit eigenen Flügeln über den Himmel zu fliegen. Den kühlen Lufthauch der Sterne an meinem Körper zu spüren, während ich mit den Vögeln und Fledermäusen fliegend um die Wette jage.
Dann spüre ich urplötzlich ein sanftes Jucken an meinen Schulterblättern. Aus Gewohnheit greife ich mir an den Rücken, um mich zu kratzen.
»Ich habe Flügel!‹‹, entfährt es mir unwillkürlich und sofort ist der ekelerregende Geschmack in meinem Mund vergessen. Ich bekomme das breite Grinsen überhaupt nicht mehr aus meinem Gesicht, während ich ganz sanft mit meinen Flügeln zu schlagen beginne, um meine neuen Kräfte zu testen.
Wenige Augenblicke später herrscht totales Chaos in dem engen Cockpit. Denn nicht nur ich, sondern auch Torben, Thorsten, Clara und zwei Dutzend Steinlinge erproben jetzt gleichzeitig ihre neuen Körperteile. Ich bin so auf mich selbst konzentriert, dass ich den braunen Flügel zu spät erkenne, der auf meinen Kopf zugerast kommt. Mit einem dumpfen Wuuuusch! trifft mich Torbens Adlerschwinge mitten ins Gesicht und ich werde nach hinten geworfen. Verzweifelt schlage ich mit meinen eigenen blutroten Flügeln, um mein Gleichgewicht wiederherzustellen. Dabei verheddern sich allerdings meine Fittiche mit denen von Thorsten und wir stürzen beide krachend zu Boden.
Währenddessen sausen überall im Cockpit kleine, geflügelte Kieselsteine aufgeregt durch die Luft und geben dabei summende Geräusche von sich, wie eine Horde Kleinkinder, die mit Modelldüsenfliegern eine Luftschlacht nachspielen.
»Genug! Alle halten ihre Flügel still! Sofort!‹‹, brüllt Clara-Justine durch den wilden Trubel. Augenblicklich halten wir alle in unserer Bewegung inne. Die Kieslinge machen noch ein paar letzte, flapsige Flügelschläge, bevor sie etwas ruppig zurück auf dem Boden landen.
»Die Wirkung des Energy Drinks lässt nach spätestens dreißig Minuten nach. Wir haben also nicht lange Zeit, um nach oben zu fliegen und den Edelsteinen ihre funkelnden Rüben einzuklopfen‹‹, sagt Clara mit erhobener Stimme, »Seid ihr dabei oder nicht?‹‹
»Sowas von dabei!‹‹, rufen Thorsten und Torben wie im Chor.
»Nieder mit dem Diamantling-Regime!‹‹, grölt ein kleines Mineral und flattert aufgeregt mit seinen kleinen Flügelchen.
Ich bücke mich und meine Finger umschließen den warmen Griff meines Schwertes. Ich kann die summende Energie spüren, die von der blutroten Drachenklinge ausgeht. Entschlossen blicke ich Clara in die Augen und nicke.
Wir erreichen das Spektakel in allerletzter Sekunde. Vater Fels und die übrigen Kieslinge stehen dicht aneinandergedrängt in der Mitte eines funkelnden Reigens aus fies dreinblickenden Edelsteinlingen. Über die mächtige Granitbrust von Vater Fels ziehen sich tiefe Furchen und an seiner rechten Seite fehlt ein großer Gesteinsbrocken, welcher einige Meter weiter leblos auf dem Höhlenboden liegt.
Einige der Kieslinge sind sogar noch übler zugerichtet. Ein kleines Mineral kauert jammernd über einem zerbrochenen Freund, der nur noch flache, unregelmäßige Atemstöße von sich gibt. Ein weiterer Kiesling humpelt zornig auf einem gebrochenen Bein umher und beschimpft die Edelsteine vor sich mit den wüstesten Ausdrücken, die einem Steinling überhaupt zur Verfügung stehen.
Unterdessen thront der schwarze Diamantling noch immer auf seinem mächtigen Geröllhaufen hoch über dem Geschehen und blickt mit finsterer Genugtuung auf seine besiegten Feinde herab. Seine unfassbare Gier, mit der er jede Sekunde seines Triumphes auskostet, ist das Einzige was unsere Freunde gerade noch am Leben hält.
Schwer atmend und mit zitternden Flügeln spähen Thorsten, Torben, Clara und ich hinter dem großen Stalagmiten hervor, der uns vorerst als Versteck vor den Augen der Edelsteine dient. Das Fliegen ist tatsächlich sehr viel anstrengender als ich erwartet hatte.
»Wie viele sind es?‹‹, piepst ein kleines, verängstigtes Kieselsteinchen zu mir hoch. Die Kieslinge fürchten sich offenbar so sehr, dass sie sich nicht einmal trauen, einen kurzen Blick auf ihre Rivalen zu wagen. Ein weiteres Mal luge ich vorsichtig aus unserem Versteck hervor.
»Ich sehe eine Handvoll Rubinlinge, zwei Dutzend Smaragdline, vier Amethysten, eine ganze Horde Saphirlinge… ach, und ein lupenreiner Opal ist auch dabei‹‹, sage ich fachmännisch als wäre ich ein Juwelier, der einem reichen Kunden sein höchst exklusives Sortiment präsentiert.
»Das ist Opa Opal!‹‹, ruft ein rundlicher Kiesling und flattert dabei aufgeregt mit seinen Flügeln, »Er steht auf unserer Seite!‹‹
»Danach sieht es aber gerade nicht aus‹‹, erwidere ich wenig überzeugt, während ich das Schauspiel vor uns mit gerunzelter Stirn betrachte. Der große, dunkelblaue Opal macht einen ebenso fiesen Eindruck wie all seine Kumpane. In diesem Moment macht er eine abfällige Handbewegung zu Vater Fels.
»Ich gebe zu, ich habe euch unterschätzt‹‹, ergreift auf einmal der König der Edelsteinlinge mit erhobener Stimme das Wort, »Ich dachte, dass ich euch wertlose Geröllklumpen, wenn überhaupt, dann nur noch als feinen, von der Sonne gemahlenen Sandstaub wiedersehen würde. Aber offensichtlich habe ich mich geirrt.‹‹
Der Diamantling setzt das fieseste Grinsen auf, dass er zu bieten hat: »Welch eine Freude! So bleibt es an uns, euch hässliche Fehlgeburten der Evolution von der Oberfläche des Mondes zu tilgen!‹‹ Meine Hand krallt sich fester um den Griff meines Katana. Flammende Wut wallt in meinem Magen auf und drückt von unten gegen meinen Brustkorb.
»Meine wenig verehrten Kieslinge, ihr seid wirklich ein abscheulicher Fehler, ein schrecklicher Fauxpas der gewaltigen Schöpferkraft des Schwarzen Loches. Lasst uns heute diesen Fehler mit einem dicken Rotstift korrigieren‹‹, fährt der Diamantling in seiner scheußlichen Rede fort und mit seiner Worte, kocht glühend heißer Zorn in meiner Brust hoch, »Männer! Zerbröselt sie alle! Bis auf den letzten Stein!‹‹
»HALT!‹‹, höre ich meine eigene Stimme wie die eines Fremden über meine Lippen kommen. Ohne es zu bemerken, bin ich hinter dem Stalagmiten hervorgetreten und sehe mich nun einer ganzen Armee aus bösartig dreinblickenden Edelsteinen gegenüber. Zwar gehen mir selbst die Größten unter ihnen nur etwa bis zum Bauchnabel, aber sie alle sind spitz und scharfkantig genug, um mich der Länge nach aufzuschlitzen, wie ein schlachtreifes Spanferkel.
Trotzdem erkenne ich einen Anflug von Unsicherheit in den Gesichtern der Edelsteine, als ihr Blick erst zu meinen prachtvoll ausgebreiteten, blutroten Flügeln und anschließend zu der glühenden Klinge in meiner Hand wandert.
Die Luft in der Grotte knistert vor Anspannung. Jetzt treten endlich auch meine Freunde hinter mir aus den Schatten der Felsen hervor und selbst die Kieslinge trauen sich aus ihrem Versteck.
»Ey, Diamantling! Ja genau, du!‹‹, ruft ein besonders mutiger Kiesel zu meinen Füßen, »Du hast da Dreck im Gesicht. Ich glaube, dir sollte mal wieder jemand die Fresse polieren!‹‹
Der König der Edelsteinlinge braucht einen Moment, bis die Beleidigung bis zu seiner Hirnrinde vorgedrungen ist. Dann verzieht er das Gesicht zu einer zornigen Grimasse und fuchtelt fuchsteufelswild mit seinen kleinen Ärmchen in der Luft herum. Dabei brüllt er: »Tötet sie! Tötet sie alle!‹‹
Sofort bricht das totale Chaos in der Grotte aus. Die Edelsteinlinge scheinen Vater Fels und die hilflosen Kieslinge in ihrer Mitte völlig vergessen zu haben. Wutentbrannt stürmen sie schreiend und grölend auf uns zu. Wir erwidern die Schreie und sprinten ebenfalls los.
Als uns nur noch wenige Meter von den funkelnden Juwelen trennen, breite ich meine Flügel aus und schwinge mich kraftvoll in die Luft. Hinter mir tun es mir meine Freunde gleich. Verdattert bleiben die Edelsteinlinge auf der Stelle stehen und starren zu uns hoch.
Einen kurzen Moment genieße ich die verblüfften Blicke. Dann stoße ich mit erhobener Klinge vom Himmel herab wie ein tödlicher Racheengel. Der eingravierte Drache auf meinem Katana scheint sich funkelnd und glänzend über den Stahl zu winden, im nächsten Moment beißt er sich fauchend in die Brust eines stämmigen Saphirlings. Funken und blaue Gesteinssplitter sprühen in alle Richtungen wie die Strahlen einer explodierenden Silvesterrakete. Einen Augenblick später bin ich auch schon wieder in der Luft, außerhalb der Reichweite der übrigen Edelsteinlinge.
Neben mir fegen Thorsten und Torben über die Reihen der hilflosen Klunker hinweg, wobei sie ihre funkelnden Spatenklingen im Sekundentakt auf die Köpfe ihrer Gegner niederfahren lassen. Clara schwebt unterdessen in einigem Abstand über dem Spektakel und lässt ihr Gewehr feurige Kugelsalven auf die Edelsteinlinge spucken.
Es herrscht ein Gemetzel von der Sorte, über die auch hunderte Jahre später noch an prasselnden Lagerfeuern ehrfürchtige Lieder gedichtet werden. Metall vermählt sich kreischend mit Gestein, Schreie tränken die bebende Luft und über alldem schweben hohl und flehend die verzweifelten Befehle, die der König der Edelsteinlinge seinen völlig wehrlosen Soldaten zubrüllt.
Auch Vater Fels und die übrigen Kieslinge nutzen nun die Gunst der Stunde und werfen sich mit in das Gemenge. Funken fliegen in alle Richtungen und das knirschende Geräusch von brechendem Stein hallt von den Höhlenwänden wider. Der mächtige Granitfelsen macht Gebrauch von seiner ganzen Masse und zermalmt gleich mehrere quiekende Smaragdlinge gleichzeitig unter sich. Irgendwo in dem Gedränge erkenne ich auch Opa Opal, der sich, wie von dem kleinen Steinling prophezeit, doch noch auf unsere Seite geschlagen hat und nun seine Kameraden mit wütenden Hieben bearbeitet.
Die Schlacht um die Edelsteingrotte ist ein wahres Massaker!
Plötzlich nehme ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf dem Geröllhaufen wahr. Sofort wirbele ich herum und sehe gerade noch, wie sich der König der Edelsteinlinge durch eine schmale Felsspalte zwängt. Dabei kratzt der grobe Granit des Felsens hässliche Schürfwunden in seine blank polierte Oberfläche. Im nächsten Moment wird der schwarze Juwel vollständig von der Spalte verschlungen. Wütend durchquere ich mit ein paar kräftigen Flügelschlägen den Raum zwischen mir und der Öffnung im Fels. Doch als ich dort ankomme, ist von dem Herrscher über die Edelsteingrotte bereits keine Spur mehr. Nur eine feine Schicht schwarzer Diamantstaub, welche die Ränder des Spalts bedeckt, zeugt noch davon, dass es den Diamantenkönig jemals gegeben hat.
Erst jetzt fällt mir auf, dass der Kampflärm hinter mir verklungen ist. Die letzten noch verbliebenen Edelsteine haben sich wimmernd und um Gnade bettelnd in der Mitte der Höhle zusammengekauert. Der Boden um sie herum ist über und über mit funkelndem Glitzerstaub bedeckt.
»Wir haben gewonnen!‹‹, jubeln die Kieslinge aufgeregt, hüpfen und flattern freudig umher und verpassen sich gegenseitig freundschaftliche Kopfnüsse, dass die Funken fliegen. Vater Fels lässt sein dröhnendes Lachen durch die riesige Grotte hallen und meine Freunde landen gerade zurück auf dem Höhlenboden und klopfen sich nun breit grinsend auf die Schultern. Seufzend wende ich mich von der Gesteinsspalte neben mir ab und lasse meine Augen über die jubelnde Menge schweifen. Ein sanftes Lächeln flattert auf mein Gesicht und lässt sich dort nieder. Auf einmal treffen sich meine Blicke mit denen von Clara und obwohl uns bestimmt zwanzig Meter voneinander trennen, fühlt es sich auf einmal so an als stünde sie direkt vor mir. Plötzlich habe ich den pulsierenden Drang ihr nahe zu sein.
Da meine Flügel mittlerweile verschwunden sind, nehme ich den steinigen Abstieg von der Spitze des großen Geröllhaufens zu Fuß in Angriff. Unten angekommen empfängt mich Clara mit einem strahlenden Lächeln, welches die Sonne selbst an ihren besten Tagen alt aussehen lässt. Wir fallen uns in die Arme und für einige Sekunden sauge ich einfach nur den Geruch ihrer Haare ein. Ich spüre ihren warmen Körper an meinem und drücke sie noch etwas enger an mich. Jetzt sind wir uns so nah, dass ich ihren Herzschlag an meiner Brust fühlen kann.
Nach einer Ewigkeit lösen wir uns wieder voneinander und ich versinke in den wogenden Tiefen ihrer smaragdgrünen Augen. Der Blick den Clara mir jetzt schenkt ist anders als alles, was ich je erfahren habe. Die Haut auf meinem Gesicht fängt langsam an zu prickeln. Heißes Adrenalin und feurige Erregung wallt in großen Wellen durch meine Venen.
Ganz langsam hebe ich meine rechte Hand und berühre sanft Claras vor Anstrengung leicht geröteten Wangen. Streiche behutsam eine Strähne aus ihrem Gesicht. Zärtlich. Meine Fingerspitzen kribbeln bei der Berührung. Bei alldem bin ich noch immer ein Gefangener ihrer glitzernden Augen.
Dann lehnt sie sich nach vorne. Die Welt um uns herum ist verschwunden. Da sind nur noch diese Wangen, diese Augen, diese Lippen. Ein warmer Schauder fährt durch meinen Körper. Wie ein verzweifelter Imker versucht mein Gehirn, den Bienenschwarm in meiner Magengrube zu bändigen. Aber vergeblich. Ich spüre ihren Atem in meinem Gesicht. Zögernd. Begehrend. Jetzt lehne ich mich noch ein Stückchen weiter zu ihr und auf einmal berühren sich unsere Lippen. Die Zeit bleibt stehen. Nur das Feuer in meinem Herzen knistert munter weiter.

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