2. Kapitel - Yugi fordert mich zu einem Match heraus! | CrayZ
- Tim J. R. Ufer

- 19. Juli 2021
- 5 Min. Lesezeit
Bereits nach wenigen Minuten des Dauerlaufs spüre ich, wie meine Lunge anfängt zu brennen. Mein Mund ist so rau wie Schmirgelpapier und mein Atem geht rasselnd. Ich habe definitiv unterschätzt, was für eine Ausdauer so ein Hamster haben kann. Allerdings scheint das auch kein normaler Hamster zu sein. Immerhin trägt er einen Helm! Fest steht jedenfalls, dass dieses undankbare Tier meine einzige Chance ist, den Tag zu überleben.
Einige Zeit später – mir kommt es so vor, als würde ich bereits seit Stunden diese trostlose, graue Wüste durchqueren – stelle ich am Horizont endlich eine Veränderung in der Landschaft fest. Dort hinten wird der kalte, tote Stein nach und nach von ein paar grünen Grasflecken abgelöst. Und noch etwas weiter sehe ich bereits erste Sträucher und Büsche aus dem Boden sprießen.
Was aber mein Herz endgültig zu einem freudigen Hüpfer in meinem Brustkorb veranlasst, sind die Gebäude. Vielleicht einen halben Kilometer vor mir beginnen die niedlichen Häuserreihen einer gewöhnlichen Kleinstadt sich aus dem steten grau der Steinwüste zu schälen.
Dieser Anblick weckt meinen Kampfgeist von Neuem. Mit frischer Kraft treibe ich meinen Körper zu Höchstleistungen an. Der Schweiß, der bereits vor einem knappen Kilometer angefangen hat, einen dünnen Film auf meiner Haut zu bilden, kullert jetzt in dicken Perlen an mir herab. Alle paar Schritte muss ich mir mit der Hand übers Gesicht wischen, um noch eine klare Sicht zu behalten.
In diesem Moment fällt mir auf, dass ich den Hamster vor mir aus dem Blick verloren habe. Stolpernd und schwer atmend komme ich zum Stehen. Ich muss erst für einige Sekunden meine Hände auf meinen Oberschenkeln abstützen, bevor ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. Verzweifelt blicke ich mich um.
Nichts.
Ich kann das blöde Vieh nirgendwo entdecken!
»Egal‹‹, denke ich. Die kleine Stadt vor mir zieht meinen Blick in ihren Bann.
»Wo Häuser sind, sind auch Menschen‹‹, sage ich mir selbst und eine Welle freudiger Erregung durchflutet meinen Körper. Vielleicht werde ich heute doch noch nicht sterben.
In diesem Moment kommt urplötzlich ein kalter Wind auf. Die Böen zerren an meinem abgetragenen T-Shirt und verwüsten meine Haare.
Dann fällt mit einem Mal ein Schatten über mich. Ein markerschütterndes Brüllen zerfetzt die Luft und Adrenalin schießt glühend heiß durch meine Adern. Jedes einzelne Haar auf meinem Körper steht kerzengerade. Im nächsten Augenblick erzittert der Boden unter meinen Füßen. Welches Geschöpf auch immer zu dem Schatten gehört, es ist größer als ein Haus und nur wenige Meter von mir entfernt.
Von den zwei Lösungsmöglichkeiten, die mir die Evolution für solche Fälle mitgegeben hat, entscheide ich mich für die eindeutig dümmere: Ich drehe mich um, bereit diesem Monstrum die Stirn zu bieten!
Zu meiner großen Überraschung macht die Kreatur, die da vor mir etwa 20 Meter in den Himmel ragt, keine Anstalten mich zu fressen. Zumindest noch nicht. Soweit die gute Nachricht.
Die Schlechte ist: Vor mir steht ein haushoher, blau funkelnder Drache. Der gigantische Kiefer des Geschöpfs erscheint mir kräftig genug, um eine ausgewachsene Eiche mit einem Bissen entzweizuteilen. Jede seiner Klauen ist größer als ich und spitz wie ein Zahnstocher - oder wie ein Speer.
»Ja, eher wie ein Speer‹‹, denke ich und nicke zufrieden über meinen, bildlich sehr treffenden, Vergleich. Bekümmert betrachte ich den mickrigen, krummen Metzgerdorn in meiner eigenen Hand. Auch ohne tieferes Verständnis für Schlacht-strategie und Kriegskunst erkenne ich, dass ich mit meiner Waffenstärke in diesem Kampf definitiv am kürzeren Hebel sitze.
Ich blicke wieder zu meinem Gegner und erst jetzt fällt mir auf, dass der Drache vor mir nicht allein ist. Direkt neben dem linken Bein des Monstrums steht ein kleiner, bunt kostümierter Junge. Im Schatten der mächtigen Bestie erscheint er beinahe winzig.
Der Junge trägt einen schnittigen, blau-weißen Umhang und seine Frisur erinnert mich ein bisschen an einen Seestern. Seine Haare haben die Farbe von erntereifen Auberginen und stehen in fünf Zacken, unbeeindruckt der Schwerkraft strotzend, zum Himmel. Dazu passend ziehen sich fünf goldene Strähnen durch sein Haar, die den Look wirklich perfekt machen.
Es beschleicht mich das seltsame Gefühl, sowohl diese Person als auch den Drachen vor mir irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Aber mir fällt beim besten Willen nicht ein, wo das gewesen sein könnte.
In diesem Moment beginnt der Junge zu sprechen: »Mein Name ist Yugi! Bereit für einen Kampf?‹‹
Verdattert starre ich den Jungen namens Yugi an. Mit einem Mal kommt ein Teil meiner Erinnerung zurück. Dieser Typ da vor mir ist die Hauptperson aus der Lieblingsfernsehserie meiner Kindheit. Yu-gi-oh!
»Ich bin dein allergrößter Fan!‹‹, rufe ich mit voller Inbrunst zurück.
Yugi scheint diese Antwort allerdings nicht zu gefallen. Er dreht sich zu seinem blauäugigen weißen Drachen und sagt etwas zu ihm. Ich kann die Worte nicht verstehen, da er zu weit entfernt steht.
»Nun gut, Fremdling! Ich werde dir jetzt deine Lifepoints abzocken‹‹, schreit Yugi und deutet mit seinem Zeigefinger direkt auf meine Brust, »Los, blauäugiger weißer Drache! Mach ihn fertig!‹‹
Meine Knie klatschen Beifall. Wie angewurzelt stehe ich da und starre auf das riesige Maul des Drachen vor mir, das mich in wenigen Sekunden in Stücke reißen wird.
Doch in diesem Moment passiert etwas ausgesprochen Seltsames. Der blauäugige weiße Drache verzieht das Gesicht und im nächsten Moment entfährt ihm ein markerschütterndes Jaulen, sehr ähnlich dem eines Hundes, dem man aus Versehen auf seinen Schwanz getreten ist.
Verwirrt blicke ich an dem Monster herab, um die Ursache seines Verhaltens zu ergründen. Zuerst kann ich beim besten Willen nichts erkennen. Doch dann fällt mir der kleine, braun-weiße Fellknäuel auf, der trotzig auf dem rechten Fuß des Drachens hockt. Der Hamster macht einen äußerst selbstzufriedenen Eindruck. Offensichtlich hat er gerade dem Drachen in den kleinen Zeh gebissen.
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich endlich begreife, dass dies vielleicht meine einzige Gelegenheit zur Flucht ist. Wie vom Blitz getroffen wirbele ich herum und nehme meine Füße in die Hand. Hinter mir vernehme ich das aufgebrauchte Brüllen des gigantischen Drachen, der fuchsteufelswild von einem Fuß auf den anderen stampft und versucht, das kleine lästige Tier an seinem Zeh abzuschütteln.
In der Angst, dem Drachen könnte genau das jeden Augenblick gelingen, riskiere ich nochmal einen Blick über die Schulter. Aber meine Sorgen sind unbegründet. Mein kleiner Retter hat das Seil auf seinem Rücken dazu genutzt, um sich an dem Fuß seines riesigen Rivalen festzubinden und bearbeitet nun systematisch die Zehen des Monstrums mit seinen Nagetierzähnen.
Ich sende ein stummes Stoßgebet zum Himmel und renne so lange, bis der helle, hämmernde Ton meiner Füße auf dem kalten Steinboden verklingt und einem dumpfen Wummern Platz macht. Ich habe das satt-grüne Gras erreicht. Schnaufend und ächzend überwinde ich die letzten Meter, bis ich endlich an den Ausläufern der ersten Häuserreihen halt mache. Hinter mir ist in weiter Ferne nur noch leise das wütende Brüllen des blauäugigen weißen Drachen zu hören.
Mit einem Mal von jeglichem Adrenalin verlassen, schleppe ich mich auf die Veranda eines der ersten Häuser am Rande der Stadt, lasse mein Schwert klirrend neben mich auf die Holzdielen fallen und breche erschöpft zusammen. Bereits nach wenigen Sekunden befinde ich mich in einem tiefen, traumlosen Schlaf.

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