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14. Kapitel - Vogelkannibalismus | CrayZ

  • Autorenbild: Tim J. R. Ufer
    Tim J. R. Ufer
  • 19. Juli 2021
  • 8 Min. Lesezeit

»Gibt es Überlebende?‹‹, krächzt die steinalte Frau mit dem spitzen Hut und den knochigen Fingern gebieterisch von einem der Tische herunter. Dabei lugt sie angestrengt unter ihrer Hutkrempe hervor, als versuche sie, auf der Lichtung vor sich etwas zu erkennen.

»Nur die beiden Gefangenen dort vorne, meine Herrin‹‹, erwidert ein großer, muskelbepackter Affe mit tiefer, kehliger Stimme. Er steht neben der alten Frau auf dem mit Reptiloidenleichen übersäten Boden und deutet mit seiner Pranke auf mich und Clara.

Um ihn herum stehen unzählige weitere Gestalten, die allesamt erwartungsvoll zu der alten Frau in ihrer Mitte blicken. Mit einem flüchtigen Blick stelle ich fest, dass die gesamte Lichtung vollgepackt ist mit den unterschiedlichsten Wesen und Daseinsformen. Große Zyklopen mit nur einem Augen stehen dicht an dicht mit Menschen, Orks, Zwergen und Olfaktillen. Daneben erkenne ich im schwachen Licht der wenigen noch stehenden Fackeln eine ganze Gruppe muskelbepackter Trolle, ein Rudel auf den Hinterpfoten stehender Hunde, eine Handvoll neugierig dreinblickender Velociraptoren und einen Storch mit Brille. Ungläubig blinzle ich.

»Hä?‹‹, ruft die Alte und reckt den Hals zu dem Affen.

»Nur zwei, meine Herrin. Es handelt sich offenbar um Gefangene der Echsenmenschen‹‹, wiederholt der Gorilla, diesmal noch etwas lauter.

»HÄÄÄÄ?!‹‹, macht das alte Weib erneut, formt mit ihrer rechten Hand eine Schüssel und hält sie sich ans Ohr.

Der Affe grunzt genervt und verdreht die Augen. Dann öffnet er den Mund, um seinen Satz ein weiteres Mal zu wiederholen: »Es gibt zwei…‹‹

»Jaja, schon klar!‹‹, fällt ihm die Alte schleimig keckernd ins Wort, »Hab dich schon beim ersten Mal verstanden, Bruno!‹‹ Mit diesen Worten springt das Weib kichernd und erstaunlich behände von ihrem Podest und landet weich auf der blutgetränkten Erde unter ihr. Anschließend zückt sie einen knochigen Gehstock und beginnt, zielstrebig die Lichtung zu überqueren.

»Ähm, Verzeihung meine Herrin, aber die Gefangenen stehen auf der anderen Seite‹‹, äußert sich ein junger Mann in einer der hinteren Reihen vorsichtig. Genau wie all die anderen merkwürdigen Gestalten auf der Lichtung trägt er einen einfachen Blechspaten auf dem Arm und ein Paar schlammiger Lederstiefel.

»Danke Torben!‹‹, krächzt die alte Hexe und ändert ruppig ihre Richtung, sodass sie nun genau auf Clara und mich zuhält.

»Ich bin nicht Torben!‹‹, erwidert der junge Mann entrüstet und deutet mit der freien Hand auf einen ihm sehr ähnlich aussehenden Mann direkt neben sich, »Das ist Torben. Ich bin Thorsten!‹‹

»Klappe jetzt!‹‹, murrt das hässliche Weib und deutet mit ihrem krummen Wanderstock auf Thorsten, »Ich konnte euch beide nicht mal auseinanderhalten, als meine verdammten Augen noch zu was Nutze waren.‹‹

Thorsten stemmt wütend die Fäuste in die Hüften, wagt es allerdings nicht noch einmal den Mund zu öffnen. Stattdessen zieht er einen Schmollmund und beginnt mit seinem Spaten grimmig in der Erde herumzustochern.

In der Zwischenzeit hat die alte Hexe Clara und mich beinahe erreicht. Um ein Haar wäre sie geradewegs zwischen uns hindurch marschiert, doch ich mache mit einem diskreten Räuspern auf mich aufmerksam. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Sinn macht, das Ganze noch unnötig in die Länge zu ziehen.

Das knochige Weib mit dem Hut und der großen Nase hält abrupt an und fixiert mich mit ihren blutunterlaufenen Augen, während sie träge auf mich zu hinkt.

»Was für eine Art von Wesen bist du?‹‹, fragt die Hexe mit ihrer hohen, kratzigen Stimme und pickst mich prüfend mit der Spitze ihres Stockes in die Seite. Dabei humpelt sie um mich herum, bis sie direkt vor mir steht.

Mit zittriger Stimme antworte ich: »Ich, ähh… ich bin ein Mensch.‹‹

»Ein Mensch, hä?‹‹, macht das alte Weib und dreht sich auf einmal blitzschnell zu Clara herum, »Und du?‹‹

»Ich auch, meine Herrin‹‹, sagt Clara-Justine hastig und versucht dabei so laut und deutlich wie möglich zu sprechen. Trotzdem höre ich das Zittern aus ihrer Stimme heraus.

»Ahhhhh‹‹, macht die Hexe und ihre Miene hellt sich sichtlich auf, »Das Mädchen hat Manieren! Scheinbar weißt du schon, mit wem du es hier zu tun hast, hä?‹‹

Clara nickt. Als die Alte sie weiterhin fragend anblickt, fügt sie schnell hinzu: »Ähm natürlich, meine Herrin. Sie und Ihre Moorsoldaten sind berühmt, geradezu berüchtigt. Selbstverständlich kenne ich die Geschichten über Euch.‹‹

Dem hässlichen Weib scheint zu gefallen, was sie hört, denn sie lässt sich zu einem breiten Grinsen hinreißen, während sie eifrig mit ihrem Gehstock auf den Boden stampft.

»Gut, gut‹‹, krächzt die Alte und wendet sich keckernd von uns ab, »Ihr seid aufgenommen. Thorsten und Torben, macht die Gefangenen los und gebt ihnen Stiefel und Spaten!‹‹

»Jawohl, meine Herrin!‹‹, erwidern Thorsten und Torben im Chor und kommen angelaufen.

Im nächsten Moment entfährt mir unwillkürlich ein wohliger Seufzer, als der junge Mann namens Torben die Stricke um meine Handgelenke löst. Neben mir entfernt sich auch Clara dankbar von ihrem Pfahl und nimmt gerade ein Paar ausgetretene, aber erstaunlicherweise sehr saubere Lederstiefel sowie einen rostigen Spaten von Thorsten entgegen.

»Wie heißt du?‹‹, fragt mich Torben neugierig, während ich vorsichtig meine aufgeschürften Handgelenke abtaste.

»Nik‹‹, antworte ich knapp. Torben streckt mir seine Hand entgegen und für einen Moment beäuge ich sie nur misstrauisch. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich von der merkwürdigen alten Hexe und ihrer wild zusammengewürfelten Armee aus den verschiedensten Wesen und Daseinsformen halten soll. Torben scheint allerdings ein netter Typ zu sein, deswegen reiche ich ihm meine Hand und drücke beherzt zu.

»Solider Händedruck‹‹, meint Torben und nickt anerkennend, »Gefällt mir.‹‹

»Ja, ich hatte Übung in letzter Zeit‹‹, erwidere ich und zum ersten Mal seit einer ganzen Weile huscht ein kleines Lächeln über meine Lippen.

Doch dann muss ich an Sascha zurückdenken und das Versprechen, das ich ihm wegen seiner Tochter gegeben habe. Sofort wird mir schwer ums Herz. Ich habe ihm versprochen, Clara sicher wieder zurück zu ihm nach Monheim zu bringen und nun wurden wir gerade von einer verrückten, alten Moorhexe zwangsrekrutiert.

Wo soll das alles nur hinführen?

»Hier, deine Stiefel und dein Spaten‹‹, meint Torben und reicht mir besagte Gegenstände. Der Spaten fühlt sich schwerer an als gedacht, der Griff und das Schaufelblatt sind bereits rostig und von Schlamm verkrustet. Die Stiefel hingegen sind wundersamerweise blitzblank geputzt.

»Was hat es damit auf sich?‹‹, will ich wissen, während ich mir das feste Schuhwerk überziehe. Die Stiefel sind so groß, dass sie bequem über meine Turnschuhe passen. Um auf einem Bein nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stütze ich mich dabei auf meinen Spaten.

»Mit den Stiefeln und dem Spaten?‹‹, fragt Torben belustigt, »Ach, das ist nur so eine Art Uniform. Jeder Neuling bekommt das, wenn er uns beitritt.‹‹

»Und wer seid ihr, wenn ich fragen darf?‹‹, hake ich nach und schlüpfe elegant in den zweiten Stiefel.

»Wir sind die Moorsoldaten‹‹, erwidert der junge Mann sofort mit stolzgeschwellter Brust, »Hast du etwa noch nie von uns gehört?‹‹

»Wenn ich ehrlich bin, nein‹‹, gebe ich zu, »Ich habe vor ein paar Tagen mein Gedächtnis verloren.‹‹ Betreten blicke ich vor mir zu Boden.

»Das ist ja grauenhaft‹‹, meint Torben schockiert und sieht mich mitleidsvoll an.

Schließlich sagt er: »Komm. Wir können uns zu Hause weiter unterhalten. Es ist schon spät.‹‹

Mit diesen Worten wendet sich Torben von mir ab und stapft zur Mitte der Lichtung. Dort haben sich die restlichen Moorsoldaten bereits versammelt. Viele von ihnen sind noch damit beschäftigt, große Teile des Festmahls der Echsenmenschen in riesige, lederne Säcken zu verstauen. Bei dem Anblick fällt mir wieder ein, wie hungrig ich eigentlich bin.

»Genug geplündert! Auf geht‘s, wir brechen auf!‹‹, krächzt die Alte von der anderen Seite der Lichtung und marschiert geradewegs in das Dickicht des pechschwarzen Waldes hinein.

Die Moorsoldaten murren und lassen widerstrebend die restlichen Köstlichkeiten liegen, die sich noch auf der Lichtung verteilt befinden. Ich ertappe allerdings den Storch mit der Brille dabei, wie er sich schnell noch einen kleinen Hühnerschenkel in den Schnabel klemmt. Ich frage mich, ob das bei ihm wohl unter Kannibalismus zählt.

»Alles okay bei dir?‹‹, fragt mich plötzlich eine vertraute Stimme von der Seite. Ich drehe den Kopf und blicke dankbar in Claras smaragdgrünen Augen.

»Ja, mir ist nichts passiert. Und bei dir?‹‹, erwidere ich und lasse meinen Blick prüfend über ihren Körper wandern. Auf den ersten Blick scheint sie unverletzt. Und ihre Kleider trägt sie ebenfalls noch. Sie nickt und lächelt mich an.

Dann sagt sie ernst: »Tut mir leid wegen vorhin. Es ist nicht deine Schuld, dass die Reptiloiden uns geschnappt haben. Ich habe es auch nicht fertiggebracht, an nichts zu denken.‹‹

»Ist schon vergessen‹‹, sage ich lässig und mache eine wegwerfende Handbewegung. In mir aber brodelt ein Lavasee der Gefühle. Gemeinsam setzen wir uns in Bewegung, um den Anschluss zur Gruppe nicht zu verpassen.

»Ich muss dir noch etwas sagen‹‹, fährt Clara schließlich im Gehen fort und diesmal wirkt ihre Stimme unsicher, sogar ein wenig zittrig. Das Feuer in meiner Magengegend züngelt höher. Äußerlich versuche ich dagegen, weiterhin cool zu bleiben. Lässig sehe ich zu ihr herüber.

Clara ringt derweil nach Worten. Dabei sieht sie zu Boden, als traue sie sich nicht, mir in die Augen zu sehen.

»Ich…‹‹, beginnt sie, doch in diesem Moment wird sie von Thorsten unterbrochen, der sich grinsend zu uns gesellt.

»Na, wie gefallen euch eure neuen Treter?‹‹, fragt er beschwingt. Seinen Spaten hat er sich über den rechten Arm gelegt, sodass das Gerät bei jedem seiner Schritte taktvoll auf und ab schaukelt.

»Ein wenig klobig‹‹, gebe ich zu und sehe an meinen Beinen hinab. Die Stiefel sind so riesig, dass sie lächerlich an meinen kleinen Füßen aussehen. Hätte ich darunter nicht auch noch meine Turnschuhe an, würde ich vermutlich bei jedem Schritt unfreiwillig aus ihnen herausschlüpfen.

»Ach, man gewöhnt sich dran‹‹, erwidert Thorsten belustigt und duckt sich im Gehen gekonnt unter einem hervorstehenden Ast hindurch, der plötzlich aus der Dunkelheit vor ihm aufgetaucht ist.

»Ja, wenn man die Dinger nur lang genug trägt, verschmelzen sie zu einem Teil deines Körpers‹‹, mischt sich Torben grinsend in das Gespräch mit ein, »Ich spüre schon gar nicht mehr, dass ich Stiefel trage. Manchmal schlafe ich sogar mit den Tretern, weil ich vergesse, sie auszuziehen.‹‹

Clara blickt erst angewidert auf die von pechschwarzem Schlamm überkrusteten Stiefel an Torbens Füßen und dann hinauf zu seinem Gesicht. Auch ich male mir gerade aus, wie wohl Torbens Bett aussehen muss.

»Naja, wir haben keine richtigen Betten, wisst ihr. Genau genommen schlafen wir draußen im Freien. Ist aber eigentlich ziemlich gemütlich. Wegen der heißen Dämpfe im Sumpf wird es auch nie kalt‹‹, erklärt Torben, der unsere entsetzten Blicke bemerkt hat.

»Moment mal. Der Sumpf? Wo gehen wir eigentlich hin?‹‹, will Clara auf einmal wissen »Ich dachte, dass mit den Moorsoldaten wäre nur so ein Image.‹‹

»Oh nein‹‹, erwidert Thorsten und schüttelt heftig den Kopf, »Aber ihr werdet schon sehen. Wir sind fast da.‹‹

Mit diesen Worten beendet Thorsten das Gespräch und schaut wieder geradeaus. Auch ich lasse zum ersten Mal seit einiger Zeit meinen Blick über unsere Umgebung schweifen. Sofort fällt mir auf, dass der Wald um uns herum bereits viel lichter geworden ist. Nur noch vereinzelt ragen ein paar dürre, knochige Stämme aus dem von der Nacht geschwärzten Untergrund und strecken ihre mageren Äste wie Finger nach uns aus.

Auch der Boden unter meinen Füßen fühlt sich seltsam verändert an. Meine Stiefel sinken beim Gehen nicht mehr federnd in weiches Moos. Stattdessen ertönt ein unappetitliches, schmatzendes Geräusch bei jedem meiner Schritte.

»Sorry, ich konnte mich einfach nicht mehr beherrschen‹‹, klappert plötzlich eine tiefe Stimme und ich erkenne die schemenhafte Gestalt des bebrillten Storches, der neben mir mit seinen dürren Beinchen voran stakst. An seinen winzigen Füßen erscheinen die klobigen Lederstiefel noch weitaus mehr fehl am Platze als an meinen eigenen.

Der sprechende Vogel hält mir entschuldigend den abgenagten Hühnerschenkel unter die Nase. Erst jetzt fällt mir auf, dass das schmatzende Geräusch verstummt ist.

»Tatsächlich befinden wir uns längst mitten im Sumpfgebiet. Aber auf diesem Pfad passiert uns nichts‹‹, meint der Storch, der meinen irritierten Blick verfolgt hat, »Der Boden hier ist festgebacken wie Pflasterstein.‹‹

Wie um seine Worte zu beweisen, stampft der Storch kräftig mit seinen Stiefeln auf den Boden.

Dann fügt er geheimnisvoll flüsternd hinzu: »Es ist der einzig sichere Weg, der zur schlammigen Festung führt.‹‹

»Die schlammige Festung?‹‹, frage ich verdattert und habe das Gefühl, nun doch im Boden zu versinken.

»Oh ja‹‹, erwidert der Storch vielsagend, beziehungsweise wenig sagend. Eigentlich sagt er mir damit überhaupt nichts. Allerdings muss er das auch nicht, denn in diesem Moment hält die Gemeinschaft der Moorsoldaten auf einmal an und mein Blick richtet sich nach vorne.

»Dürfen wir vorstellen‹‹, flöten Thorsten und Torben wie im Chor, »Die schlammige Festung! Das Zuhause der Moorsoldaten.‹‹

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