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Ohne Dich - A Love Story

  • Autorenbild: Tim J. R. Ufer
    Tim J. R. Ufer
  • 20. Juni 2021
  • 35 Min. Lesezeit


Kapitel I.

»Bist du dir sicher, dass du allein zurechtkommst, Mäuschen?‹‹ Lillys Vater umarmte seine Tochter fest, dann ließ er von ihr ab und musterte sie besorgt.

Lilly verdrehte genervt die Augen. »Es ist nur ein Wissenschaftsprojekt, Dad‹‹, murmelte sie. Hastig drehte sie sich um und marschierte auf das große Eingangsportal der Schule zu. Es war ihr peinlich, dass ihr Vater sie noch immer wie ein kleines Kind behandelte.

»Ich bin dann in drei Stunden wieder hier und hol dich ab!‹‹, rief ihr Vater hinterher.

»Ist gut‹‹, antwortete sie ohne zurückzublicken.

Lilly drückte gegen die schwere Eingangstür und diese schwang quietschend auf. Es war seltsam, an einem Samstagvormittag eine Schule zu betreten. Das Foyer war still und menschenleer und auf einmal fühlte sich Lilly schrecklich fehl am Platz. Sie besuchte dieses Wissenschaftsprojekt heute zum ersten Mal und ihr fiel auf, dass sie gar keine Ahnung hatte, wo sie eigentlich hin musste. Panisch blickte sie auf die Uhr, die gleich neben dem Eingang hing. Fünf vor Zehn. In wenigen Minuten würde das Projekt beginnen!

In Lillys Kopf ratterte es. Was hatte ihre Lehrerin nochmal gesagt? Raum 2.02. Genau! Aber wo, verdammt, war dieser Raum? Lilly hatte das öffentliche Schulgebäude in ihrem Leben noch nicht von innen gesehen. Sie ging auf die kleine Privatschule am Rande der Stadt. Warum gab es hier denn keine verfluchten Schilder? Lilly drehte sich im Kreis und suchte verzweifelt nach irgendwelchen Hinweisen, die ihr helfen könnten, den richtigen Raum zu finden.

»Hey, bist du auch für das Chemieprojekt hier?‹‹

Lilly wirbelte erschrocken herum. Vor ihr stand ein schlanker Junge mit kurzen blonden Haaren. Obwohl sie im gleichen Alter zu sein schienen, war er etwas kleiner als Lilly. Auf seiner Nase befanden sich vereinzelte Sommersprossen und er lächelte Lilly schüchtern zu. Während Lilly ihn anstarrte, wurde er zunehmend rot im Gesicht.

»Also… äh… ich dachte nur, weil du hier so rumstehst…‹‹, stammelte der Junge, der sich plötzlich ziemlich unwohl in seiner Haut zu fühlen schien, »Das Projekt findet jedenfalls oben statt.‹‹ Er deutete hastig auf einen der Treppenaufgänge, der hinauf in den zweiten Stock führte.

»Äh, danke‹‹, erwiderte Lilly, rührte sich aber nicht von der Stelle. Für einen kurzen Moment herrschte eine peinliche Stille zwischen den beiden.

»Wenn du willst, kannst du mir einfach folgen‹‹, bot der blonde Junge schließlich an. Dabei fummelte er mit seinen Fingern unablässig an dem Reißverschluss seiner Jacke herum.

»Das wäre nett‹‹, meinte Lilly. Der Junge nickte erleichtert. Eilig huschte er an ihr vorbei und ging voraus in Richtung Treppenaufgang. Lilly folgte dicht hinter ihm.

Wenige Minuten später erreichten die beiden Schüler das Klassenzimmer. Die meisten anderen Jugendlichen waren bereits da und sahen neugierig herüber, als Lilly und ihr Begleiter den Raum betraten.

»Lukas, da bist du ja endlich. Ich dachte schon, du kommst heute gar nicht‹‹, begrüßte die Lehrerin den blonden Jungen mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht. Dann wanderte ihr Blick zu Lilly. »Ah, du musst die Schülerin von der Friedrich-Schmelzer sein. Lilly, richtig?‹‹

Lilly nickte schüchtern.

»Du kannst dich auf den Platz neben Lukas setzen. Ihr zwei scheint euch ja schon flüchtig kennengelernt zu haben‹‹, entschied die Lehrerin und deutete auf einen freien Tisch in der zweiten Reihe. Anschließend begann sie damit, den Ablauf des Projektes vorzutragen.

Lilly hörte kaum zu. Hastig schlich sie zu dem freien Platz neben Lukas, ließ ihre Tasche neben dem Tisch auf den Boden fallen und schob sich auf ihren Stuhl. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Lukas. Dieser hatte bereits einen Stift rausgeholt, den er jetzt unruhig durch seine Finger gleiten ließ. Seine Augen waren starr nach vorne auf die Tafel gerichtet, doch auch er schien nicht wirklich zuzuhören.

»Okay, wenn ihr keine Fragen mehr zu der Aufgabenstellung habt, könnt ihr jetzt eure Kittel und Schutzbrillen holen. Die Pipetten und Reagenzgläser liegen vorne bei mir‹‹, verkündete die Lehrerin. Sofort wurden zahlreiche Stühle quietschend zurückgeschoben und die Schüler standen schnatternd auf, um ihre Utensilien für das Experiment zu holen.

»Wir sollten uns besser beeilen‹‹, meinte Lukas und erhob sich ebenfalls, »Die sind da wie die Geier.‹‹ Er reckte sein Kinn in Richtung der Horde Schüler, die bereits zu dem Schrank stürmten, in dem die Brillen aufbewahrt wurden. Lilly musste grinsen.

»Geht klar‹‹, erwiderte sie, »Hol du die Brillen, ich kümmere mich in der Zwischenzeit um unsere Kittel.‹‹ Lukas nickte dankbar und verschwand in der drängelnden Schülermenge. Währenddessen ging Lilly zu der Garderobe, an der die Schutzkittel hingen. Sie suchte zwei davon heraus, die noch nicht ganz so heruntergekommen aussahen und ging damit zurück zu ihrem Platz. Da Lukas noch nicht mit den Brillen zurück war, machte sie sich auf den Weg zum Lehrerpult, um auch die restlichen Utensilien für den Versuch zu holen. Als sie schließlich mit vollen Händen zurück an ihren Platz kam, stand Lukas dort und hob triumphierend zwei nagelneue Schutzbrillen in die Luft.

»Hab welche erwischt, die keinen einzigen Kratzer haben!‹‹, verkündete er stolz. Er setzte seine eigene Schutzbrille auf machte dann einen Schritt nach vorne. Vorsichtig schob er Lilly, die immer noch beide Hände voll hatte, ihre Brille auf die Nase. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke.

»Danke‹‹, murmelte Lilly und beugte sich schnell herunter, um die Reagenzgläser auf dem Tisch abzustellen. Dabei hoffte sie, dass Lukas nicht auffiel, wie rot sie geworden war.

»Sind alle bereit?‹‹, fragte die Lehrerin in diesem Moment. Erneut kehrte Ruhe in den Raum ein.

»Sehr schön, dann könnt ihr jetzt loslegen. Denkt dran, das ist heute nur eine Übung für den Wettbewerb. Lasst euch also Zeit. Ich werde ab jetzt keine Fragen mehr beantworten.‹‹

Die Lehrerin klatschte in die Hände und die Schüler begannen mit ihrer Arbeit.




Kapitel II.

»Wie war dein Vormittag?‹‹

»Hmm?‹‹ Lilly blickte zu ihrem Vater herüber, der neben ihr auf dem Fahrersitz saß.

»Der Junge schien nett, mit dem du zusammengestanden hast. Wie heißt er?‹‹, hakte ihr Vater nach. Er versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, doch seine Mundwinkel zuckten nach oben. Lilly rollte mit den Augen. »Er heißt Lukas und wir haben uns nur unterhalten‹‹, entgegnete sie scharf.

Ihr Vater hob unschuldig die Hände vom Lenkrad, doch er konnte sich sein Lächeln dabei kaum verkneifen. Lilly schnaubte und wandte sich demonstrativ von ihm ab und sah aus dem Fenster.

Zuhause angekommen pfefferte Lilly ihre Turnschuhe achtlos in den Hausflur und huschte auf direktem Wege in ihr Zimmer. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie ihre Schultasche fallen und warf sich auf ihr Bett. Die Bettdecke fühlte sich so wunderbar weich und gemütlich an. Lilly blieb ein paar Sekunden so liegen und vergrub ihre Nase in den weichen Kissen. Dann drehte sie sich auf den Rücken und holte ihr Handy aus der Hosentasche. Fünf neue Nachrichten aus zwei Chats.


11:32

Hannah: Der heiße typ aus der Stufe über uns feiert heut abend ne hausi! du musst unbedingt kommen! Sophie und Becky sind auch dabei

Hannah: omg

Hannah: Paul hat mir gerade geschrieben. Er kommt auch heute Abend. Lilly, ich brauche dich!

Hannah: LILLY!


Lilly schüttelte grinsend den Kopf und öffnete den anderen Chat. Dieser war von Chris.


12:10

Chris: Hey Lilly, kommst du zu der party heut abend? Sag den anderen ladies, sie sollen was von dem brokkoli mitbringen.🤪


Lilly ignorierte die Nachricht von Chris und antwortete auf die von Hannah.


13:22

Lilly: weiß nicht ob ich es heut Abend schaffe…bin ziemlich fertig von dem Chemieprojekt.


Dann schaltete sie ihr Handy aus und ließ sich zurück in ihre Kissen sinken. Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss einfach nur die Ruhe.

Ihr Klingelton weckte sie auf. Benommen rieb sich Lilly die Augen und tastete nach ihrem Handy.

»Verdammt‹‹, murmelte sie. Der Anruf war von Hannah. Seufzend nahm Lilly den Anruf an und drückte den kühlen Bildschirm an ihr Ohr.

»Hey Hannah‹‹, murmelte sie schläfrig.

»Lilly! Wieso antwortest du nicht auf meine Nachrichten!‹‹, dröhnte Hannahs Stimme durch den Lautsprecher.

»Sorry, muss aus Versehen eingeschlafen sein‹‹, gestand Lilly.

»Die Hausi geht in einer halben Stunde los und ich weiß noch nicht mal, welches Outfit ich anziehen soll. Komm sofort rüber, du musst mir helfen mich zu entscheiden!‹‹, entgegnete Hannah aufgeregt.

»Ich hab doch gesagt, ich komm nicht zu der Hausi‹‹, wehrte sich Lilly müde und setzte sich auf. Dabei betrachtete sie sich selbst in dem Wandspiegel, der neben ihrem Bett hing, »Ich bin müde wegen…‹‹

»Ja, ja, wegen diesem blöden Physik Ding‹‹, knurrte Hannah.

»Chemie‹‹, berichtigte Lilly ihre Freundin halbherzig.

»Lenk jetzt nicht vom Thema ab!‹‹, tadelte Hannah, »Hör zu, die anderen machen sich sowieso schon darüber lustig, dass du in deiner Freizeit so komischen Nerd Kram machst.‹‹

»Was meinst du damit?‹‹, fragte Lilly stirnrunzelnd, »Ich kann machen, was ich will.‹‹

»So mein ich das doch nicht, das weißt du. Bitte, komm einfach zu der Party. Es wird dir gut tun, glaub mir!‹‹, flehte Hannah ihre Freundin an.

Lilly seufzte. »Na schön. Aber ich brauch ein paar Minuten. Meine Haare sehen absolut schrecklich aus.‹‹ Sie warf einen missmutigen Blick in den Spiegel.

»Beeil dich! Wir treffen uns in einer halben Stunde bei Becky‹‹, sagte Hannah eindringlich. »Wir sehen uns dort.‹‹

»Bis dann‹‹, murmelte Lilly, doch Hannah hatte schon aufgelegt.



Kapitel III.

Während Lilly mit ihren gackernden Freundinnen durch die Straßen lief, war sie mit den Gedanken ganz woanders. Aus irgendeinem Grund musste sie ständig an den blonden Jungen von dem Chemieprojekt denken. Wie er sie angesehen hatte mit seinen tiefgrauen Augen. Wie er ihr zärtlich die Brille auf die Nase geschoben hatte…

»Was ist mit dir, Lilly?‹‹ Lilly schreckte aus ihren Tagträumen hoch.

»Äh… was?‹‹, fragte sie. Sophie, Becky und Hannah kicherten. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie bei Becky bereits vorgetrunken hatten.

»Na, ob du Chris vögeln würdest, wenn er dir die Gelegenheit dazu gibt‹‹, rief Hannah und gleich darauf kreischten alle drei los vor Lachen. Hannah schien ihre Frage aber ernst zu meinen, denn sie sah Lilly nach wie vor fragend an.

»Weiß nicht‹‹, meinte Lilly und schüttelte den Kopf. »Nein, vermutlich nicht‹‹, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu und erntete dafür bestürzte Aufschreie von ihren Freundinnen.

»Waaaaas?!‹‹, riefen Becky und Hannah gleichzeitig.

»Aber der Typ ist mega hot!‹‹, machte auch Sophie ihrem Unglauben Luft, »Also ich mach’s ja nicht mit jedem, aber bei Chris…‹‹

Wieder kicherten alle drei. Selbst Lilly musste schmunzeln und genoss es für einen Moment, zusammen mit ihren Freundinnen durch die Stadt zu ziehen und einfach nur Spaß zu haben.

Das Haus von Chris Eltern lag etwas außerhalb der Stadt an einem Berghang und es war eine verdammte Villa. Hinter dem riesigen Eingangstor aus altmodischen Eisenstäben befand sich ein großer Vorhof mit mehreren Parkplätzen, einer riesigen Rasenfläche und sogar einem kleinen Springbrunnen. Das eigentliche Haus besaß drei Stockwerke mit verglasten Wänden in Richtung Tal und eine traumhafte Dachterrasse mit Glasgeländer, auf der ein sprudelnder Whirlpool stand. Chris Vater war Manager in einer großen Softwarefirma und er hatte vor einigen Jahren viel Geld in Bitcoin gesteckt. Früher hatte die Familie in einem hübschen Reihenhaus in der Dorfmitte gewohnt. Jetzt wohnten sie in einer Villa.

»Ladies!‹‹ Zwei ältere Jungs, die Lilly nur flüchtig aus der Stufe über ihr kannte, kamen auf die Mädchen zu. In den Händen hielten sie große rote Bierbecher, deren Inhalt beim Laufen bedrohlich über den Rand schwappte.

»Hallo‹‹, entgegneten Hannah und Becky sofort und umarmten die Jungen. Lilly und Sophie blieben ein wenig auf Abstand und winkten den Betrunkenen höflich zu.

»Lust auf ne Runde Flunkyball?‹‹, wollte einer der Jungs wissen und stützte sich grinsend an seinem Kumpel ab. Sein Blick wanderte unverhohlen über Hannahs Ausschnitt, die mit ihrem Outfit nicht viel von sich verborgen hielt. Lilly rümpfte angeekelt die Nase, doch Hannah klimperte mit den Wimpern und sagte: »Klar doch! Wenn ich in deinem Team sein darf!‹‹ Sie hakte sie bei dem Typen ein, Becky übernahm den anderen Jungen und die vier verschwanden in der feiernden Menge.

»Die lassen heute Abend nichts anbrennen‹‹, meinte Sophie und kicherte. Lilly nickte zustimmend.

»Na komm, Lilly. Wird Zeit, dass wir beide auch ein bisschen Spaß haben.‹‹ Sophie schnappte ihre Freundin bei der Hand und zog sie auf die Rasenfläche vor dem Haus, auf der sich die meisten Jugendlichen tummelten. Die laute elektronische Musik aus den großen Lautsprecherboxen umschloss die beiden wie eine schwere Decke und das Geschnatter der umstehenden Gäste verdickte sich zu einer unverständlichen Kakofonie aus Stimmen, Rufen und Gelächter.

Sophie besorgte ihnen ein paar Klopfer und zwei große Bierbecher und kurz darauf tanzten die beiden Mädels lachend über den Rasen, während um sie herum die kreisenden bunten Lichtkegel der viel zu teuren Lichtanlage die Nacht erhellten.

Irgendwann, es musste inzwischen nahe Mitternacht sein, spürte Lilly plötzlich einen warmen Atem im Nacken. Sie drehte sich um und sah in eisblaue Augen. Chris.

»Du siehst aus, als würdest du Spaß haben‹‹, rief Chris ihr ins Ohr, um die laute Musik zu übertönen. Lilly, die mittlerweile mehr getrunken hatte als gut für sie war, kicherte vergnügt. Chris kurze Bartstoppeln kitzelten an ihrem Ohr. Sie erwiderte seinen Blick, hörte dabei aber nicht auf zu tanzen. Chris glich seine Bewegungen denen von Lilly an und drängte sich dichter an sie heran. Er war ein gutes Stück größer als Lilly und an seinen Armen und unter seinem T-Shirt strafften sich die Muskeln, während er sich lässig zum Takt der Musik hin und her wiegte.

Lilly biss sich schuldig auf die Lippen als sie bemerkte, wie ihr Blick über Chris Körper streifte. Schnell sah sie zu Boden und konzentrierte sich auf ihre eigenen Bewegungen. Chris schob jedoch seine Hand vor und hob Lillys Kinn an, sodass sie wieder in seine wunderschönen blauen Augen sehen musste. Für einen Moment war sie wie erstarrt. Die Geräusche um sie herum schienen leiser zu werden und gleichzeitig konnte sie ihren eigenen Herzschlag laut und deutlich hören.

Ganz langsam beugte sich Chris nach vorne. Seine Augen waren dabei nach wie vor auf Lilly gerichtet. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie öffnete leicht ihren Mund für ihn und im nächsten Moment trafen sich auch schon ihre Lippen. Ein Schwarm Schmetterlinge erwachte in Lillys Bauch und eine Welle zitternder Erregung jagte durch ihren gesamten Körper. Für ein paar Sekunden ließ sie das Gefühl zu und gab sich ganz dem Moment hin. Dann hob sie ihre Hände, um Chris von sich weg zu drücken, doch dieser drang nun noch stärker auf sie ein. Seine Zunge schmeckte nach süßem Alkohol, während er seine starken Arme um Lillys Hüfte schlang und sie fester zu sich heran zog.

»Hey, es reicht‹‹, nuschelte Lilly undeutlich in Chris Lippen hinein. Dann endlich schaffte sie es für einen Moment, sich zu befreien. »Es reicht!‹‹, rief sie und wich einen Schritt von dem Jungen zurück.

Chris starrte sie verständnislos an. »Was ist denn los, Süße? Ich will doch nur ein bisschen Spaß haben. Mach dich mal locker!‹‹

»Ich hab genug‹‹, entgegnete Lilly mit fester Stimme und sah sich hilfesuchend nach ihren Freundinnen um. Leider fehlte von Hannah, Becky und Sophie jede Spur.

»Hannah ist vor einer halben Stunde zusammen mit Paul im Schlafzimmer meiner Eltern verschwunden‹‹, grinste Chris als habe er Lillys Gedanken gelesen. »Becky und Sophie lassen sich heute Nacht bestimmt auch noch poppen.‹‹

»Du bist so ekelhaft!‹‹, rief Lilly und warf Chris einen wütenden Blick zu. »Ich geh nach Hause.‹‹ Sie drehte sich um und wollte so schnell wie möglich verschwinden, doch Chris packte sie an der Schulter und hielt sie zurück. Auf einmal war er ihr wieder ganz nah.

»Du gehst nirgendwo hin!‹‹, knurrte er in ihr Ohr, sodass nur sie es hören konnte. Dann, wieder voll in der Rolle des lässigen Fuckboys, sagte er: »Komm schon. Ich weiß, du willst es auch. Lass uns nach oben gehen, nur wir beide.‹‹ Er hauchte einen prickelnden Kuss auf Lillys Hals und ihr ganzer Körper erzitterte vor Ekel. Verzweifelt versuchte sie Blickkontakt mit ein paar von den umstehenden Leuten aufzubauen, doch niemand schien sie und Chris zu beachten. Ein weiteres Mal riss sie sich von ihm los, doch er fing sie mit Leichtigkeit wieder ein. Seine Hände glitten an ihrem Körper herab und kniffen in ihren Po.

»Lass mich los!‹‹, schrie sie und endlich warfen ein paar der umstehenden Jugendlichen den beiden neugierige Blicke zu. Keiner von ihnen schien jedoch Lilly zur Hilfe kommen zu wollen. Einige von den Jungs grinsten sogar breit und sahen mit unverhohlenem Vergnügen dabei zu, wie Chris Hände zwischen Lillys Beine wanderten.

Heiße Tränen brannten ihren Weg über Lillys Wangen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und stieß Chris ihren Ellbogen in den Bauch. Der stöhnte auf und lockerte für einen Moment seinen Griff. Lilly wirbelte herum und trat dem Jungen mit aller Kraft gegen die Beule, die sich jetzt auf seiner Jeans wölbte. Chris starrte sie für einen Moment verblüfft an. Dann klappte er mit einem Stöhnen zusammen und krümmte sich wimmernd auf dem Rasen.

Die umstehenden Gäste blickten erst erschrocken auf den am Boden liegenden Chris, dann wanderten ihre Blicke auf Lilly. Mit einem Mal schien sich alle Aufmerksamkeit auf sie zu richten. Lilly taumelte ein paar unsichere Schritte zurück, dann drehte sie sich um und stürmte davon.

Erst als sie das Grundstück längst verlassen hatte und der hämmernde Bass der Musikanlage in der Ferne verklang, hielt sie schwer atmend an und brach weinend hinter einem parkenden Auto zusammen. Ihr gesamter Körper bebte unter dem Heulkrampf und es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Sie wollte hinter dem Auto hervorkriechen und den Weg nach Hause laufen, doch sie traute sich nicht. Sie fürchtete sich zu sehr, dass irgendjemand sie so sehen könnte. Also holte sie ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer ihres Vaters.

»Papa‹‹, setzte sie mit zitternder Stimme an, »Papa, bitte, du musst mich abholen.‹‹




Kapitel IV.

Am nächsten Morgen wurde Lilly sanft von einer warmen Hand an ihrer Schulter geweckt. Sie vergrub sich noch tiefer in ihr weiches Kissen und genoss die sanfte Stimme ihres Vaters, der leise ihren Namen wiederholte. Schließlich schlug sie die Augen auf und sah zu ihrem Papa hoch, der mit einer dampfenden Thermoskanne und einem frischen weißen Hemd neben ihrem Bett stand und sie liebevoll ansah.

»Hey, Mäuschen. Wie geht es dir?‹‹, fragte er.

Lilly setzte sich in ihrem Bett auf. »Besser‹‹, murmelte sie, auch wenn sie nicht ganz sicher war, ob das stimmte. Sie erinnerte sich vage daran, wie sie in der Nacht noch lange wach gelegen und geweint hatte. Sie hatte ihrem Vater nicht alles erzählt, doch er kannte sie gut genug, um sich seinen Teil zu denken. Jetzt setzte er sich neben sie auf die Bettkante und sah seine Tochter besorgt an.

»Deine Mutter und ich hatten diese Parisreise schon länger geplant, aber wenn du willst, dass wir bleiben…‹‹, setzte er an, doch Lilly fiel ihm ins Wort.

»Mir geht’s gut, ehrlich. Heute ist euer Hochzeitstag! Außerdem habt ihr euch so sehr auf diese Reise gefreut. Ich will nicht, dass ihr meinetwegen bleibt.‹‹

»Bist du ganz sicher?‹‹, fragte Lillys Vater, »Diese Reise ist nicht so wichtig für uns. Klar, wir haben uns darauf gefreut, aber wir können auch hier zusammen einen schönen Tag verbringen.‹‹

»Matthias, Schatz? Unser Zug fährt in dreißig Minuten‹‹, erklang in diesem Moment die Stimme von Lillys Mutter aus dem Treppenhaus.

»Du hast deine Frau gehört, ihr verpasst noch den Zug‹‹, stichelte Lilly und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich komm schon alleine klar, ganz sicher.‹‹

Ihr Vater zögerte einen Moment, dann fasste er sich ein Herz. »Na schön, aber wenn irgendetwas ist, dann rufst du uns sofort an, versprochen?‹‹

»Versprochen‹‹, nickte Lilly.

»Schatz, wir müssen jetzt wirklich los‹‹, ertönte ein weiteres Mal Lillys Mutter.

»Ich komme ja schon‹‹, rief Matthias gedehnt rollte in gespieltem Ärger mit den Augen und zwinkerte seiner Tochter zu. Dann umarmte er Lilly kurz und eilte aus dem Zimmer. Wenige Minuten später hörte Lilly, wie die Haustür geöffnet wurde und kurz darauf krachend zufiel. Dann wurde es plötzlich still im Haus.

Lilly blieb noch eine Weile liegen und starrte an ihre Zimmerdecke. In ihrem Kopf wiederholten sich die Ereignisse des gestrigen Abends. Schließlich schlug sie ihre warme Wolldecke zurück und schlurfte in Pantoffeln ins Bad. Dort wusch sie sich gründlich und kämmte ihre Haare. Nachdem sie sich wieder einigermaßen menschlich fühlte, kehrte sie zurück in ihr Zimmer und ließ sich zurück auf ihr Bett fallen. Lustlos griff sie nach ihrem Handy. 19 neue Nachrichten aus zwei Chats. Die Nachrichten von Hannah las sie zuerst. Sie waren noch von letzter Nacht.


23:11

Hannah: Rate mal, wen ich gerade flachgelegt habe…

Hannah: Diesen total heißen Typen aus dem Sport LK!


23:13

Hannah: Wo bist du? Wir brauchen dringend ein Mädchengespräch!


Dann, zwei Stunden später, hatte sie noch eine weitere Nachricht geschickt.

01:17

Hannah: Ich habe von der Sache mit Chris gehört. Dieser Arsch! Bist du okay?


Die restlichen Nachrichten waren aus einem Gruppenchat, in dem die meisten Leute drin waren, die letzte Nacht bei der Party waren. Eine Nachricht von Chris in der Vorschauleiste des Chats weckte Lillys Neugierde. Mit zitternden Fingern öffnete sie den Gruppenchat.


21:36

Lars: Yo, seid ihr schon bei Chris?

Becky: Klar, kommt her die party ist der wahnsinn!

Abdul: pimmel deinen arsch hier rüber

Moritz: selber pimmel, du schwanz

Sarah: Leute, wo wohnt Chris nochmal? Wir finden die Adresse net

Abdul: Einfach immer den Berg hoch. Könnt ihr kaum übersehen, das Haus ist ein verficktes SCHLOSS!

Lars: True xD


21:53

Lars: Ich mach mich jetzt auch auf den Weg. Ich bring noch ein paar Leute mit. Geht klar, oder

Moritz: safe. sind auch ladies dabei?😛

Lars: Halt dein Maul


00:24

Jennifer: Was war da gerade vor dem Haus los? Habt ihr das mitbekommen

Nadia: Hab nur gesehen wie lilly heulend abgehauen ist

Moritz: Die olle Schlampe hat Chris in die Eier getreten

Becky: Der Idiot hat sie auch angefasst!

Moritz: Na und war doch bloß spaß! muss sie nicht gleich so austicken

Abdul: Ja man die is übel ausgeflippt

Chris: Lilly kann sich mal selber ficken gehen. Die hat auf meinem Grundstück nichts mehr zu suchen

Jennifer: Oh, ist da jemandes Ego angekratzt

Nadia: Halt die Klappe, Jenni. Lilly hat echt überreagiert

Lars: Ja man, hält sich wohl für was besseres seit sie bei diesem Wissenschaft Scheiß angenommen wurde

Chris: die hat in diesem chat nichts mehr zu suchen


Mehr Nachrichten konnte Lilly nicht lesen, denn Chris hatte sie aus der Gruppe entfernt. Auf einmal war ihr speiübel. Sie schloss die App ohne Hannah zu antworten und tippte beinahe automatisch auf das Instagram Icon. Sofort wurden ihr einige neue Posts angezeigt. Die meisten davon waren von Leuten aus ihrer Stufe, die Schnappschüsse von der Party hochgeladen hatten. Mit einem Stechen im Magen entdeckte Lilly ein Bild von Chris, auf dem er gerade sturzbetrunken mit Nadia rummachte. Er musste das Foto gemacht haben, kurz bevor er Lilly ins Visier genommen hatte. Lilly warf einen Blick auf die Caption.


*Wer zu wenig Fehler macht, hat zu wenig ausprobiert*


Lilly schnaubte und scrollte weiter. So ein verdammter Vollidiot! Schließlich blieb ihr Blick an einem Post ihrer besten Freundin Hannah hängen. Das Bild zeigte Hannah und Lilly auf dem Weg zu der Party. Hannah machte gerade einen Kussmund und Lilly sah lachend zu Sophie und Becky, die außerhalb des Bildes standen. Lilly zögerte kurz, dann tippte sie zweimal schnell hintereinander auf das Bild und öffnete die Kommentarspalte.


@rebecca.sa: Süüüß! <3

@moritz_der_hengst24: Hot! Hot! Hot!

@dienadia03: wie lilly nicht mal ins bild schaut fühlt sich wohl zu geil für insta

@s.krueger234: cutiees :)

@abdu_1450: neben dir @hannahxo sieht lilly einfach mega hässlig aus, haha

@dienadia03: Isso xD

@chris.alr: postest du ernsthaft noch ein bild mit der

@abdu_1450: di hat nichtmal verdient zu existieren


Lilly sperrte ihr Handy und warf es von sich. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie war nie besonders beliebt gewesen in der Schule, doch so etwas hatte sie vorher noch nie erlebt. Lilly kämpfte gegen ihre Tränen an und zwang sich dazu, tief durchzuatmen. Das war alles so unfair!

Beruhig dich Lilly, sagte sie zu sich selbst. Einfach atmen.

Die Leute würden sich schon wieder beruhigen. Außerdem hatte sie nach wie vor ihre Freundinnen. Die würden zu ihr stehen. Und was Chris anging… mit dem wollte Lilly sowieso nichts mehr zu tun haben! Sie wollte nie wieder in ihrem Leben auch nur in seiner Nähe sein!




Kapitel V.

Als Lilly am nächsten Morgen das Schulgebäude betrat, hatte sie dunkle Ringe unter den Augen. Obwohl sie den ganzen Sonntag nur im Bett gelegen, Netflix geschaut und durch Tiktok geswiped hatte, fühlte sie sich so erschöpft wie seit langem nicht mehr. Sie hatte die Nacht über kaum geschlafen und beim Frühstück hatte sie nur ihrem Vater zuliebe eine halbe Scheibe Brot heruntergewürgt.

Auf dem Gang zum Klassenzimmer traf Lilly auf Sophie und Becky, die sich gerade lachend unterhielten. Sie wollte gerade zu den beiden hingehen, doch in diesem Moment tauchten Lars und Moritz auf und verwickelten die Mädchen in ein Gespräch. Lilly konnte nicht genau verstehen, was sie sagten, doch sie schienen alle guter Laune zu sein. Hilflos stand Lilly einige Sekunden einfach da und starrte die vier Schüler an, die ihr keine Beachtung zu schenken schienen, dann ging sie einfach an ihnen vorbei in Richtung Klassenzimmer. Auf ein Gespräch mit Lars und Moritz hatte sie im Moment gar keine Lust.

Als Lilly das Klassenzimmer betrat, machte ihr Herz einen freudigen Hüpfer. Hannah war bereits da und sie saß alleine an ihrem Platz und starrte auf ihr Handy. Eilig ging Lilly zu ihrem Platz neben ihrer Freundin.

»Hey‹‹, sagte sie zur Begrüßung und ließ ihre Tasche auf den Tisch plumpsen.

Hannah zuckte zusammen. »Oh, hey Lilly‹‹, murmelte sie überrascht und steckte schnell ihr Handy weg. Im Hintergrund füllte sich das Zimmer nach und nach mit Schülern.

»Wie war dein restliches Wochenende?‹‹, fragte Hannah mit einem freundlichen Lächeln, doch die Geste wirkte leer und erzwungen. Lilly war jedoch viel zu erfreut, ihre beste Freundin zu sehen, um es zu bemerken.

»Ehrlich gesagt, ziemlich beschissen‹‹, gab sie zu und ließ sich neben Hannah auf ihren Stuhl fallen. »Ich schätze, du hast die Sache mit Chris mitbekommen?‹‹

»Äh, ja, hör mal, Lilly‹‹, begann Hannah. Sie schien sich offensichtlich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. »Paul wollte heute mal neben mir sitzen. Macht’s dir was aus, dich nach hinten zu setzen?‹‹

Lilly blieb der Mund offen stehen. Sie war viel zu verblüfft, um zu antworten. In diesem Moment betraten Sophie, Becky, Lars und Moritz das Zimmer. Die beiden Mädchen kicherten gerade und Lars gab Moritz einen freundschaftlichen Nackenklatscher.

»Also nur, wenn es dir nichts ausmacht‹‹, fügte Hannah noch vorsichtig hinzu, doch Lilly war bereits aufgestanden. Ohne ein weiteres Wort zu ihrer Freundin schnappte sie ihre Schultasche und drängte sich hastig an den anderen Schülern vorbei in die letzte Reihe. Dabei rempelte sie in ihrer Hektik versehentlich Lars an.

»Hey, pass doch auf, wo du hinrennst!‹‹, rief er ihr hinterher.

»Was ist bei der eigentlich falsch gelaufen‹‹, ergänzte Moritz verächtlich. Becky und Sophie sagten nichts.

Für Lilly war dieser Montag der längste Schultag, den sie je erlebt hatte. Sie saß in allen Stunden ganz hinten in der Ecke des Klassenzimmers und starrte auf ihre Tischplatte. Selbst im Chemieunterricht sagte sie heute kein Wort. Ab und zu schreckte sie hoch und warf einen flüchtigen Blick zu Hannah und den anderen Mädchen, in der Hoffnung, eine von ihnen könnte zu ihr sehen und sie einladen, zu ihnen an den Platz zu kommen, doch das geschah nicht. In der großen Pause ging Lilly alleine in die Schulbibliothek, aber sie las nicht. Sie hatte das Buch zwar aufgeschlagen vor sich liegen, aber ihr Blick war leer auf die schwarzen Zeilen gerichtet.

Beim letzten Gong war Lilly eine der ersten, die aufsprang und hinaus auf den Flur stürmte. Hastig bahnte sie sich ihren Weg durch die Schüler aus den unteren Stufen, die jetzt alle aus ihren Klassenräumen quollen, und eilte hinaus auf den Hof. Sie konnte keine Sekunde länger in diesem Gebäude aushalten. Lilly verließ das Grundstück der Privatschule und flüchtete ins Zentrum der Stadt zu ihrem Zuhause.

Dabei war sie so mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt, dass sie beinahe nicht reagierte, als plötzlich jemand ihren Namen rief. Verwundert blieb sie stehen und wischte sich schnell eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann sah sie sich um.

»Hey Lilly! Ich bin’s, Lukas. Von dem Chemieprojekt.‹‹ Lukas winkte ihr von der gegenüberliegenden Straßenseite freundlich zu. Auf dem Rücken trug er einen Schulranzen und an seiner rechten Hand hielt er ein kleines Mädchen. Das Mädchen hatte die gleichen Sommersprossen im Gesicht wie Lukas und auch sie sah neugierig zu Lilly herüber.

Lilly war für einen Moment so erstarrt, dass sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Lukas wandte sich mit seiner kleinen Schwester am Arm der Straße zu, hielt nach herannahenden Autos Ausschau und überquerte den Asphalt. Wenige Schritte vor Lilly blieb er schließlich stehen.

»Kommst du auch grade von der Schule?‹‹, wollte er wissen, doch bevor Lilly den Mund aufmachen konnte, sagte er: »Sorry für die dumme Frage, du hast ja eine Schultasche dabei.‹‹ Er wurde rot im Gesicht.

»Lukas, ist das die Lilly von der du seit Samstag immer sprichst?‹‹, fragte das kleine Mädchen, die Lilly noch immer mit großen Augen ansah, und zuppelte an dem Ärmel ihres großen Bruders herum. Lukas wurde noch röter.

Lilly musste unwillkürlich grinsen. »Wie heißt du‹‹, fragte sie an Lukas Schwester gewandt.

»Emilia‹‹, antwortete das Mädchen aufgeregt, »Mein Bruder hat mir gesagt, dass er dich mag.‹‹

»So?‹‹, meinte Lilly in gespielter Überraschung.

Lukas sah aus als würde er am liebsten im Boden versinken.

»Naja, dein Bruder ist auch ganz in Ordnung‹‹, fügte sie lächelnd hinzu und zwinkerte Emilia zu. Diese kicherte.

»Magst du eigentlich Star Wars?‹‹, fragte Lukas unvermittelt und sah Lilly schüchtern an.

»Klar‹‹, erwiderte Lilly, auch wenn sie nicht ganz wusste, worauf er hinaus wollte.

»Weil am Donnerstag kommt ja der neue Film raus‹‹, fuhr Lukas fort. Er schien sich auf einmal brennend für seine Fingernägel zu interessieren.

»Aha‹‹, antwortete Lilly nur und konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. Sie genoss es, Lukas ein wenig zappeln zu lassen.

»Naja und ich dachte mir…‹‹, murmelte Lukas.

»Jaaa?‹‹, half Lilly etwas nach.

»Vielleicht möchtest du ja mitkommen. Wir könnten zusammen hingehen‹‹, brach es aus Lukas heraus.

»Das wäre schön‹‹, erwiderte Lilly und lächelte. Der blonde Junge war einfach zu süß, wenn er schüchtern herumdruckste.

Lukas Miene hellte sich schlagartig auf. »Meinst du wirklich? Cool, äh… also wir sehen uns dann am Donnerstag?‹‹

»Wo soll ich hinkommen?‹‹, fragte Lilly.

»Ich komm dich abholen‹‹, entgegnete Lukas schnell. »Ähm, also wenn du möchtest.‹‹

»Klar, willst du meine Nummer haben. Dann können wir vorher nochmal schreiben‹‹, schlug Lilly vor.

Lukas nickte eifrig und griff in seine Hosentasche. Er war so aufgeregt, dass er sein Handy beinahe fallen gelassen hätte. Er entsperrte es und öffnete die Kontakte. Anschließend reichte er sein Handy an Lilly weiter.

Lilly erstellte einen neuen Kontakt und fügte hinter ihren Namen ein kleines Herzchen ein. Anschließend tippte sie ihre Nummer in das Kontaktfeld.

»Schreib mir‹‹, meinte sie, als sie das Handy zurückgab und lächelte Lukas zu. »Wir sehen uns dann Donnerstag.‹‹

»Äh, klar. Bis Donnerstag‹‹, erwiderte Lukas und hob unbeholfen die Hand zum Abschied.

»Tschüss Lilly‹‹, quiekte Emilia und winkte ihr grinsend nach. Lilly ging an den beiden vorbei und verschwand wenig später hinter einer Häuserecke. Auf ihrem restlichen Heimweg konnte ihr nichts auf der Welt das breite Grinsen aus dem Gesicht wischen.



Kapitel VI.

Die nächsten drei Tage konnten für Lilly gar nicht schnell genug vorbeigehen. Sie und Lukas schrieben sich in jeder freien Minute. Morgens, wenn sie aufwachte, griff Lilly als erstes zu ihrem Handy, schaltete den Wecker aus und schrieb Lukas einen guten Morgen. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten und Lillys Herz begann sofort aufgeregt zu klopfen, wenn sie eine neue Nachricht von ihm sah.

Am Frühstückstisch unterhielt sie sich kaum noch mit ihren Eltern und in der Schule saß sie gedankenverloren in der letzten Reihe und malte sich ihr Treffen mit Lukas aus. Ihren Freundinnen schenkte sie keine große Beachtung mehr. Sollten die ruhig machen, was sie wollten. Lilly wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und fieberte dem Donnerstag entgegen, wo Lukas sie um sechs bei ihr Zuhause abholen wollte. Sie würden gemeinsam mit der Bahn in den Nachbarort fahren, wo es ein großes Kino gab. Lillys Vater hatte angeboten, die beiden zu fahren, doch sie hatte abgelehnt. Das letzte was sie auf ihrem ersten richtigen Date wollte, war, dass ihr Vater mit seinen komischen Witzen dazwischenfunkte.

Die Welt schien für einen Moment in Ordnung, bis Lilly am Mittwochnachmittag plötzlich eine neue Nachricht bekam. Aufgeregt entsperrte sie ihr Handy, weil sie mit einer Antwort von Lukas rechnete, doch es war nicht Lukas der ihr geschrieben hatte. Stattdessen erschien eine grüne 1 neben ihrem Chatverlauf mit Chris.

Lilly schluckte. Was wollte dieses Arschloch jetzt noch von ihr? Sie hielt ihren Finger auf dem Chat gedrückt, um ihn zu löschen. Ihr Daumen schwebte für ein paar Sekunden zögernd über dem Mülltonnen-Symbol. Doch schließlich gewann ihre Neugier und sie öffnete doch den Chat, um zu sehen, was Chris ihr geschrieben hatte. Vielleicht wollte er sich ja entschuldigen.


15:23

Chris: Hey Lilly. Sorry wegen der Aktion am Samstag. War echt nicht cool von mir. Was hältst du davon, wenn wir uns Donnerstagabend bei mir treffen? Lass die Sache von letztem WE einfach vergessen


Lilly spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Dieses Arschloch! Das konnte er doch unmöglich ernst meinen! Lilly konnte sich vor lauter Wut kaum beherrschen. Mit zitternden Fingern verfasste sie ihre Antwort an Chris.


15:25

Lilly: Ich soll die Sache mit Samstag einfach vergessen?! Wie blöd bist du eigentlich? Ich würde dir nicht Mal mit einem Stock zu nahe kommen. Außerdem habe ich am Donnerstag schon was vor


Lilly fühlte eine gewisse Zufriedenheit mit sich, als sie die Nachricht abschickte. Chris konnte sich mal ins Knie ficken. Dachte er wirklich, dass er Lilly mit dieser Nummer rumbekam? Nachdem, was er bei seiner Party abgezogen hatte? Lilly pfefferte ihr Handy auf ihr Kissen und sprang auf. Auf einmal spürte sie eine Wut in sich, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Sie starrte in ihr eigenes Spiegelbild an der Wand und erinnerte sich daran, wie sich Chris vor ihr wimmernd wie ein Kleinkind auf dem Rasen gewälzt hatte. Er hatte diese Schmerzen verdient! Dieser dreckige, ekelhafte…

Das Handy klingelte. Lilly ließ ihre nächsten Gedanken ungedacht und spähte zu ihrem Kissen. Zu ihrer Überraschung war es Hannah, die anrief.

Was will die denn jetzt plötzlich?, fragte sich Lilly, doch sie ging nach einigem Zögern schließlich zurück zu ihrem Bett und bestätigte den Anruf.

»Was willst du?‹‹, begrüßte sie ihre frühere beste Freundin barsch. Sie war immer noch wütend und insgeheim dachte sie, dass ihre Wut bei Hannah niemand verkehrten traf.

»Hi Lilly, tut mir leid, dass ich die letzten Tage nicht angerufen habe. Ich hab seit dem Wochenende so ne Sache mit Paul am Laufen und hatte deswegen wenig Luft‹‹, fiel Hannah mit der Tür ins Haus.

»Ach und deshalb konntest du auch nicht mit mir in der Schule reden, was?‹‹, zischte Lilly.

Hannah schien mit sich selbst zu ringen. »Ich wollte nur, dass sich die Gemüter ein wenig abkühlen, verstehst du? Weil doch Paul so gut mit Chris befreundet ist und ich weiß ja, dass es zwischen euch beiden am Wochenende irgendwie Stress gab.‹‹

»Weil es irgendwie Stress gab?‹‹, donnerte Lilly ungehalten, »Der Typ hätte mich wahrscheinlich vergewaltigt, wenn ich ihm nicht in seine Eier getreten hätte! Und du kommst auf keine bessere Idee als mit seinem besten Kumpel zu vögeln?‹‹

Lilly konnte regelrecht spüren, wie Hannah am anderen Ende der Leitung zusammenzuckte. Für ein paar Sekunden herrschte eine drückende Stille zwischen den beiden.

»Das… das wusste ich nicht Lilly‹‹, gestand Hannah mit einem unterwürfigen Tonfall in der Stimme.

»Aber weißt du… vielleicht hat Chris einfach einen blöden Fehler gemacht. Ich hab mit Paul gesprochen und der hat mit Chris geredet. Er hat versprochen, sich bei dir zu entschuldigen, für das was am Samstag passiert ist‹‹, fügte sie anschließend hinzu.

»Oh, das hat er‹‹, erwiderte Lilly bitter, »Ich hab grade eine Nachricht von ihm bekommen. Er sagt, ich solle die Sache einfach vergessen und mich morgen Abend mit ihm treffen.‹‹

»Na, das sind doch gute Nachrichten!‹‹, meinte Hannah erleichtert, die offenbar den verächtlichen Tonfall in Lillys Stimme überhört hatte. »Ihr beide könnt euch vertragen und alles wird wieder so wie früher. Wer weiß, vielleicht kommt ihr beiden sogar zusammen.‹‹

Lilly verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Fassungslos betrachtete sie sich selbst im Spiegel, während sie ihrer früheren besten Freundin zuhörte.

»Hannah, ist das eigentlich gerade dein Ernst?‹‹, fragte Lilly ruhig, aber mit einem drohenden Unterton. »Dieser Wixer hätte mich vergewaltigt. Und du schlägst vor, dass ich mit ihm eine Beziehung anfangen soll?‹‹

»Jetzt mach nicht wieder so ein unnötiges Drama draus‹‹, entgegnete Hannah ungeduldig, »Paul hat mir versichert, dass Chris es so nicht gemeint hat. Außerdem…‹‹

»Ach PAUL hat dir das versichert, ja?‹‹, brauste Lilly auf. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Na dann ist der Fall ja geklärt!‹‹

»Warum musst du nur so eine Bitch sein?‹‹, fauchte Hannah jetzt zurück, »Kein Wunder, dass dich niemand leiden kann! Wenn du so weitermachst, wirst du nie einen Freund haben!‹‹

»Du nennst MICH eine Bitch?‹‹, donnerte Lilly, »Wer von uns beiden schläft denn mit jedem nächstbesten Jungen, den sie finden kann? Außerdem habe ich einen Freund. Wir gehen morgen Abend zusammen ins Kino.‹‹

»Du willst ein Date haben?‹‹, höhnte Hannah, »Wer’s glaubt.‹‹ Und mit diesen Worten legte sie auf.

Lilly ließ ihr Handy sinken. Ihre Hände zitterten und ihr Herz raste. Sie wollte einen Schritt in Richtung Schreibtisch machen, doch ihre Beine gaben plötzlich unter ihr nach. Sie stürzte zu Boden. Glatter kalter Holzboden unter ihren Handflächen. Verfilzte Haarsträhnen in ihrem Gesicht. Lilly versuchte nicht sich aufzurappeln. Sie ließ es zu, wie brennend heiße Tränen ihr über die Wange liefen und auf das kalte Parkett tropften. Sie lag einfach nur da und weinte.

Ihr Handy riss sie aus ihrem Heulkrampf. Für eine Sekunde spielte Lilly mit dem Gedanken, das blöde Gerät einfach zu nehmen und aus dem Fenster zu werfen. Als sie jedoch sah, von wem die neue Nachricht kam, besann sie sich eines Besseren.


15:34

Lukas: Hey Lilly, kann’s kaum erwarten dich morgen zu sehen :)


Lilly wurde warm ums Herz. Mit einem Lächeln auf den Lippen antwortete sie:


15:35

Lilly: Ich freu mich auch!


Für einen kurzen Moment hielt Lilly die Luft an. Sie hatten bisher noch keine Herzen in ihrem Chat ausgetauscht. Ob sie damit schon zu weit gegangen war? Doch ihre Sorgen waren unbegründet. Keine zwei Sekunden später antwortete Lukas mit einem großen roten Herz. Lilly schloss mit einem Lächeln auf den Lippen ihr Handy und legte es sich auf die Brust. Chris und Hannah und all die anderen Leute aus ihrer Stufe konnten ihr egal sein! Sollten sie sich ruhig hinter Lillys Rücken über sie lustig machen. Sie brauchte keine falschen Freunde!




Kapitel VII.

Lukas atmete tief ein und aus. Sein Herz drohte ihm aus der Brust zu springen, so schnell schlug es. Er widerstand dem Drang, auf der Stelle kehrt zu machen und betätigte stattdessen mit bebenden Fingern die Türklingel. Nervös trat er einen Schritt von der Tür zurück und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Sein Blick fiel auf sein eigenes Spiegelbild auf der verglasten Haustür. Ob er doch lieber etwas anderes hätte anziehen sollen? Unbehaglich zupfte er an seinem schwarzen Star Wars T-Shirt herum. Der gelbe Aufdruck darauf sah schon etwas verwaschen aus.

Verdammt, stellte Lukas in Gedanken fest, Ich sehe aus wie der letzte Nerd! Was wenn Lilly gar nicht so auf Nerd Kram steht?

Bevor Lukas doch noch die Flucht ergreifen konnte, schwang die moderne Haustür auf und er stand Lillys Vater gegenüber.

»Hallo, du musst Lukas sein‹‹, begrüßte ihn der Mann freundlich und winkte Lukas eifrig ins Haus, »Cooles T-Shirt. Wird Lilly bestimmt gefallen, sie steht total auf Star Wars.‹‹ Er zwinkerte Lukas zu.

Lukas schaute verlegen zu Boden. Gleichzeitig war er irgendwie erleichtert. In diesem Moment erschien Lilly im Eingangsbereich und Lukas sah auf. Sein Herz machte einen gewaltigen Sprung. Für einen kurzen Moment war er so berauscht, dass ihm beinahe die Sinne schwanden. Lilly trug eine kurze Hose und ein blaues T-Shirt, das sie über ihrem Bauchnabel zusammengeknotet hatte. Ihre schulterlangen haselnussbraunen Haare fielen ihr offen über die linke Schulter und ihre dunklen Augen strahlten Lukas glücklich an.

»Hey‹‹, sagte Lilly und umarmte Lukas. Ihr Körper duftete nach frischen Rosenblüten und anderen herrlichen Dingen, die Lukas nicht zuordnen konnte. Als sich die beiden voneinander lösten, würgte Lukas ein undeutliches »Hi‹‹ hervor. Lilly strahlte ihn an.

»Ihr solltet los. Nicht, dass ihr noch eure Bahn verpasst‹‹, meinte Lillys Vater schmunzelnd.

»Hab dich lieb, Papa‹‹, verabschiedete sich Lilly von ihrem Vater und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Anschließend folgte sie Lukas aus der Haustür hinaus ins Freie.

»Viel Spaß euch beiden!‹‹, rief Lillys Vater ihnen noch hinterher, dann fiel die Tür ins Schloss.

»Voll das coole T-Shirt. Wo hast du das her?‹‹, wollte Lilly sofort wissen. Die Schmetterlinge in Lukas Bauch flogen einen Looping.

»Es gibt da so einen Laden in der Stadt. Die verkaufen dort nur so Zeug. Wenn du willst, kann ich dir den irgendwann mal zeigen‹‹, antwortete er. Lillys Augen glitzerten als sie eifrig nickte.

Die beiden erreichten die Bahnhaltestelle. Während sie warteten, unterhielten sie sich weiterhin über alles Mögliche und zu dem Zeitpunkt als endlich die Bahn kam, war alle Anspannung von Lukas abgefallen. Noch nie hatte er mit einem Mädchen so leicht und ungezwungen reden können. Seine Augen klebten wie Magneten an ihrem Gesicht und ihr Lachen steckte ihn jedes Mal an.

Die beiden waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie beinahe die richtige Haltestelle verpasst hätten. Lukas sprang im letzten Moment von seinem Sitz auf und stellte seinen Fuß in die sich schließenden Türen. Anschließend quetschten er und Lilly sich hastig aus der Bahn und stolperten lachend auf den Haltestellenbereich.

»Das war knapp‹‹, kicherte Lukas amüsiert.

»Ja‹‹, stimmte Lilly grinsend zu. »Du hast dich ohne zu zögern für mich zwischen die Türen geworfen. Du bist mein Held.‹‹ Sie klimperte in gespielter Dramatik mit ihren Wimpern und warf Lukas einen schmachtenden Blick zu.

Der schüttelte nur lachend den Kopf und marschierte voran in Richtung Kino. Wenige Minuten später erreichten die beiden das große Gebäude, dessen Fassade über und über mit gewaltigen Kinoplakaten bedeckt war. Kurz vor dem Eingang beschleunigte Lukas seinen Schritt und hielt für Lilly die Tür auf. Diese machte einen Knicks, konnte sich ein schelmisches Grinsen aber kaum verkneifen.

An der Kasse kaufte Lukas Tickets für sie beide und anschließend stellten sie sich in die Warteschlange vor dem Snackverkauf. Mit einem großen Eimer salzigem Popcorn und zwei gigantischen Softdrinks beladen marschierten die beiden zu ihrem Kinosaal. Vor Beginn des Films spekulierten sie darüber, wie viele Todessterne in diesem Teil wohl vorkommen und zerstört werden würden und stellten wilde Theorien über die Entwicklung der Protagonisten auf. Erst als das Licht im Saal erlosch und der Vorhang vor der Leinwand ganz zurückgezogen wurde, verstummten die beiden.

Lukas konnte nicht anders, als während des Films hin und wieder zu Lilly herüberzuschauen. Sein Blick wanderte zu ihrer Hand, die direkt neben seiner auf ihrer Lehne ruhte, doch er sah schnell wieder weg. Sein Herzschlag beschleunigte sich von neuem. Sollte er ihre Hand nehmen? Aber was, wenn sie das gar nicht wollte? Was, wenn er damit alles kaputt machte? In Lukas Gehirn kreisten die Gedanken.

Dann zuckte er plötzlich zusammen. Sein Blick wanderte zu Lilly, die ihn mit großen Augen fragend ansah. Ihre Hand lag auf seiner. Lukas lächelte und drehte seine Hand so, dass ihre beiden Finger ineinander gleiten konnten. Ein paar Sekunden sahen sie sich noch genau in die Augen, dann sah Lukas schüchtern weg und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Leinwand. Ihre Finger blieben verschlungen.

»Ich kann es nicht fassen, dass Luke tot ist!‹‹, verkündete Lilly, als die beiden nach dem Film Händchen haltend das Kino verließen.

»Ich kann es nicht fassen, dass Leia NICHT tot ist‹‹, ereiferte sich Lukas, »Immerhin ist Carrie Fischer nach den Dreharbeiten gestorben. Wie soll das nur im nächsten Teil weitergehen?‹‹

»Vergiss Leia!‹‹, Lilly rollte mit den Augen. »Die können doch nicht einfach Luke umbringen!‹‹

»Naja, er war ja jetzt auch nicht mehr grade der Jüngste‹‹, gab Lukas zu bedenken.

»Ach, vergiss es! Dir ist nicht zu helfen!‹‹, rief Lilly in gespielter Verzweiflung. Die beiden brachen durch die Eingangstür und wurden draußen vor dem Gebäude von einer kühlen Brise empfangen. Die Sonne war bereits untergegangen und bis auf die von Laternen erleuchtete Straße herrschte absolute Dunkelheit. Dennoch war es nicht besonders kalt.

Lilly und Lukas entfernten sich von dem Kino und spazierten in Richtung Bahnhaltestelle. Die Menschen, die mit ihnen aus dem Kino geströmt waren, verstreuten sich in der Dunkelheit, sodass die beiden zum ersten Mal wirklich allein waren. Für eine ganze Minute lang herrschte zwischen ihnen eine friedliche Stille.

»Hey, der Abend war echt schön‹‹, meinte Lilly schließlich und blickte zu Lukas herüber. Ihre dunkelbraunen Augen glitzerten im schwachen Licht der umstehenden Laternen. Lukas wurde auf einmal bewusst, dass sie immer noch Händchen hielten.

»Fand ich auch‹‹, sagte er ernst und erwiderte Lillys Blick. Auf einmal fühlte sich sein Mund seltsam trocken an. Die beiden hatten angehalten und standen sich nun genau gegenüber. Zaghaft machte Lilly einen weiteren Schritt auf Lukas zu. Jetzt standen sie so nah aneinander, dass Lukas ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte. Sein Blick zuckte von ihren Augen zu ihren Lippen und wieder zurück zu ihren Augen. Ganz vorsichtig lehnte er sich ein wenig nach vorne. Lilly zögerte den Bruchteil einer Sekunde, dann beugte auch sie sich ihm entgegen. Lukas konnte ihre Wärme spüren, bevor sie ihn berührte. Die Haut auf seinem Gesicht begann zu prickeln. Dann trafen sich ihre Lippen und eine zitternde Woge der Erregung flutete durch Lukas gesamten Körper. Ein heißes Feuer schien in seiner Brust aufzulodern und seine Hitze brannte sich von dort ihren Weg bis in seine Fingerspitzen. Lukas fühlte Lillys Lippen auf seinen, er konnte ihren bebenden Atem schmecken. Die Zeit stand still.


»Sieh an! Unsere beiden Turteltäubchen!‹‹

Lukas und Lilly schreckten auseinander. Betroffen sahen sie sich nach der Stimme um. Lukas zuckte zusammen, als drei Jungen vor ihnen aus den Schatten traten. Hastig blickte er über seine Schulter, doch zu seinem Entsetzen erschienen in diesem Augenblick hinter ihnen zwei weitere Jugendliche. Die Jungen waren alle mindestens einen Kopf größer als Lukas und sie bedachten ihn mit einem Blick, den eine Katze wohl einer Maus schenken würde, kurz bevor sie das kleine Tier mit ihren Krallen durchbohrte.

»Verpiss dich, Chris! Was hast du hier zu suchen?‹‹, rief Lilly wütend, doch ihre Stimme zitterte. Lukas sah sie ungläubig an. »Du kennst diese Typen?‹‹

»Ich wünschte, es wäre nicht so, das kannst du mir glauben‹‹, entgegnete Lilly zähneknirschend.

»Ich muss sagen, ich bin enttäuscht von dir‹‹, meldete sich jetzt wieder einer der Jungen zu Wort. Er schien der Anführer der Gruppe zu sein. »Ich wusste ja, dass du einen schlechten Geschmack hast, aber das…‹‹ Er ließ seinen Blick geringschätzig über Lukas wandern. »Wie alt soll der sein? Zwölf?‹‹

Die anderen Jungs lachten. Lukas spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Wütend starrte er den Typen an, doch mehr konnte er nicht tun. Sein Körper war wie erstarrt.

»Lass ihn in Ruhe, Chris!‹‹, rief Lilly in diesem Moment und baute sich vor dem großen Typen auf.

»Oder soll ich dir nochmal in deine Eier treten, dass du dich auf der Straße windest wie ein jämmerlicher Wurm‹‹, fügte sie kühl hinzu.

Der große Typ namens Chris zuckte unwillkürlich zusammen. Doch dann bleckte er wütend seine Zähne und fauchte: »Na warte, dir werde ich auch noch ein bisschen mehr Respekt einprügeln.‹‹ Seine Hand schnellte nach oben und er verpasste Lilly eine schallende Ohrfeige. Lilly stöhnte erschrocken auf und stolperte zurück. Lukas stand da wie gelähmt. Dann endlich gewann er die Kontrolle über seinen Körper zurück. Die Wut in seiner Brust verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Blitzschnell sprang er auf den Anführer der Jungs zu und rammte ihm mit aller Kraft seine Faust ins Gesicht. Zumindest versuchte er es. Sein Gegner sah den Angriff jedoch kommen und blockte den Schlag im letzten Moment lässig mit seinem rechten Unterarm.

Wumm!

Der Gegenangriff traf Lukas mit voller Wucht. Er taumelte zurück. In seinem Mund schmeckte er frisches Blut. Neben sich konnte er Lilly undeutlich seinen Namen schreien hören.

»Jetzt bist du dran, Bürschchen‹‹, knurrte Chris und Lukas konnte gerade noch sehen, wie eine weitere Faust verschwommen auf ihn zugeflogen kam. Der zweite Schlag warf Lukas zu Boden. Keuchend versuchte er sich aufzurappeln, doch sofort war der Junge auf ihm drauf und nagelte ihn mit seinen spitzen Knien auf den Asphalt. Lukas schrie auf als sich ein scharfkantiger Stein von unten in seinen Rücken bohrte. Gleichzeitig traf ihn ein weiterer Fausthieb im Gesicht und Lukas Hinterkopf knallte hart auf den Steinboden. Vor seinem Augen verschwamm die Welt.

»Hör auf! Bitte! Du bringst ihn um!‹‹ Die Worte klangen nur gedämpft zu ihm durch. Wie durch einen dicken Vorhang.

Dann endlich hörten die Schläge auf. Lukas lag einfach nur da, die Augen zusammengekniffen, die Arme wie bleierne Gewichte neben sich.

»Du hörst mir jetzt mal zu, Kleiner‹‹, knurrte auf einmal eine Stimme genau neben seinem Ohr. »Wenn ich dich noch einmal in Lillys Nähe sehe, bringe ich dich um, verstanden?‹‹

»Hast du mich verstanden?‹‹, fauchte der Typ erneut, als Lukas nicht sofort reagierte. Lukas nickte schwach.

»Gut‹‹ Die Stimme entfernte sich von Lukas und das Gewicht auf seinem Brustkorb nahm plötzlich ab.

»Kommt, Jungs. Wir hauen ab‹‹, drang es entfernt zu ihm durch. Dann war da auf einmal wieder eine Person bei ihm. Sie redete sanft auf ihn ein, doch er konnte nicht verstehen was sie sagte.

Wie ein Engel, dachte Lukas noch, bevor es um ihn herum schwarz wurde.




Kapitel VIII.

Die nächsten Tage waren schlimm. Lilly ging nicht mehr zur Schule. Sie ging eigentlich gar nicht mehr aus dem Haus. Beinahe zeitgleich mit dem Krankenwagen war auch ihr Vater angekommen, um sie mitzunehmen. Sie hatte sich gewehrt und geschrien, dass sie bei Lukas bleiben wolle, doch die Sanitäter hatten ihn ihr einfach weggenommen. Sie waren davongefahren und Lillys Vater hatte ihr versprechen müssen, dass sie Lukas am nächsten Tag besuchen könne.

Das hatten sie dann auch getan, doch es machte für Lilly alles nur noch schlimmer. Lukas ging es gut, aber sein Gesicht war übel zugerichtet und er würde wohl einige Wochen nicht mehr zur Schule gehen können. Auch der Wissenschaftswettbewerb war für ihn geplatzt. Lilly wurde die ganze Zeit das Gefühl nicht los, das es ihre Schuld war. Ihretwegen hatten Chris und seine Freunde ihnen aufgelauert. Sie war es gewesen, die in ihrer Dummheit Hannah von dem Kino erzählt hatte. Sicher hatte die es sofort Paul erzählt und der war damit zu Chris gerannt. Es war Lillys Schuld, dass Lukas zusammengeschlagen wurde.

Jetzt, knapp eine Woche nach dem Vorfall, saß Lilly in ihrem Zimmer und starrte aus dem Fenster. Draußen schien hell die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Doch es war ein bleiches, kaltes Licht, das Lilly keine Wärme brachte.

Sie fühlte sich so elend, dass sie gerne den ganzen Tag geweint hätte, aber sie hatte keine Tränen mehr. Sie fühlte sich leer, wie eine bloße Hülle.

»Hey, Mäuschen.‹‹

Lilly nahm kaum Notiz davon, wie ihr Vater das Zimmer betrat. Wahrscheinlich brachte er ihr wieder nur Tee oder Kekse. Als ob die die schreckliche Leere in ihr ausfüllen könnten.

»Es ist wieder ein Brief für dich gekommen.‹‹ Lillys Vater legte den Brief vorsichtig neben ihr auf das Bett. Sie sah ihn nicht einmal an und trotzdem wusste sie, dass ein kleines rotes Herz darauf sein würde. Vielleicht auch ein paar gekreuzte Lichtschwerter. Sie hatte den Fehler gemacht und den ersten von Lukas Briefen geöffnet, nachdem sie seine Anrufe und Nachrichten erfolgreich ignoriert hatte. Es hatte ihr beinahe das Herz gebrochen. Lukas war so dumm und naiv. Ihm war es offensichtlich egal, dass er wegen ihr zusammengeschlagen worden war. Er wollte trotzdem mit ihr zusammen sein. Aber das ging nicht. Sie würde ihn nur noch weiter in Gefahr bringen.

Lillys Vater seufzte tief, dann setzte er sich neben seine Tochter auf die Bettkante und streichelte ihr über den Rücken.

»Deine Mutter und ich machen uns Sorgen um dich, Mäuschen. Ich weiß nicht, wieso das zwischen dir und Lukas gerade so schwierig ist, aber willst du nicht wenigstens zur Schule gehen? Du hast doch dort noch Freundinnen, die dich vermissen.‹‹

Lilly sagte nichts. Sie hatte niemandem davon erzählt, wer Lukas vor dem Kino fast bewusstlos geschlagen hatte. Chris Vater war viel zu reich und hatte viel zu viel Einfluss, als dass Chris deswegen von der Schule fliegen würde. Stattdessen würde Chris sich nur noch mehr an Lukas und Lilly rächen. Lukas war offenbar schlau genug, das auch zu wissen, denn er hatte bisher ebenfalls die Klappe gehalten. Was die Situation in der Schule anging, wollte Lilly im Moment ebenfalls mit niemandem sprechen.

Ding Dong!

Lillys Vater runzelte die Stirn. »Hast du was bestellt, Maus?‹‹ Lilly schüttelt nur den Kopf. Ihr Vater seufzte und erhob sich von dem Bett. »Ich mach mal besser auf‹‹, meinte er und verließ das Zimmer. Wenige Minuten später (es hätten auch Stunden sein können) steckte er erneut seinen Kopf in Lillys Zimmer.

»Es ist Lukas. Er würde gern mit dir sprechen. Soll ich ihn wegschicken?‹‹, fragte er besorgt.

Zum ersten Mal sah Lilly ihren Vater wirklich an. »Lukas?‹‹, murmelte sie verwirrt. Sie zögerte.

»Ist schon okay‹‹, meinte sie schließlich, stand auf und betrat das Treppenhaus. Ihr Vater sah ihr nachdenklich hinterher.

»Ich bin gleich hier oben, wenn du mich brauchst‹‹, sagte er.

Lillys Herz begann ein wenig höher zu klopfen, als sie sich der Haustüre näherte. Was wollte Lukas jetzt? Hatte sie die Kraft, ihn einfach wegzuschicken? Lilly öffnete die Tür und sah Lukas an. Sein Gesicht sah mittlerweile schon viel besser aus. Es war nicht mehr so verschwollen und nur noch ein paar kleine Narben zeugten davon, was vor einer Woche passiert war. Er lächelte sie unsicher an.

»Hey‹‹, stammelte er.

»Hey.‹‹

»Die Briefe waren kitschig, ich weiß‹‹, begann Lukas, »Ich wusste nur nicht, wie ich noch zu dir durchdringen sollte.‹‹

Lilly sagte nichts. Ihr gesamter Körper drängte sie dazu, auf Lukas zuzugehen und ihn in den Arm zu nehmen. Ihn zu küssen, wie sie sich vor dem Kino geküsst hatten. Bevor alles den Bach runter gegangen war. Doch sie hielt stand und starrte nur stumm in seine grauen Augen.

»Naja, deswegen bin ich nicht hergekommen‹‹, meinte Lukas nach einer Weile, »Ich habe ein bisschen recherchiert und dann mit meinem Onkel gesprochen. Der arbeitet bei der Polizei und er sagt, dass Chris für das was er getan hat, nicht nur von der Schule fliegt, sondern auch in den Jungenknast kommen könnte.‹‹

Lukas zögerte kurz, bevor er fortfuhr. »Offenbar hatte Chris schon häufiger mit der örtlichen Polizei zu tun und die wissen da bereits, was für ein Typ das ist. Bisher hat sein Vater ihn von den schlimmsten Strafen bewahrt, aber selbst er könnte seinen Sohn da nicht rausholen. Mein Onkel hat mit dem Kinobetreiber gesprochen und die haben außen Überwachungskameras, die alles aufgenommen haben. Außerdem sind offenbar schon vor einer Woche zwei Mädchen zum Revier gefahren und haben dort Anzeige gegen Chris wegen sexueller Belästigung gestellt. Sie wurden allerdings abgewiesen, weil das Opfer selbst die Anzeige stellen muss. Würde diese Anzeige nun aber doch noch rausgehen…‹‹

»Moment mal‹‹, mischte sich jetzt Lilly ein, »Wer hat diese Anzeige gegen Chris erstattet?‹‹

»Die Mädchen hießen wohl Rebecca und Sophie.‹‹ Lukas zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, du kennst sie vielleicht.‹‹

Lilly nickte nur. Auf einmal war sie wie betäubt.

»Jedenfalls könnten die Karten kaum besser stehen. Für das, was er getan hat, wird Chris mit Sicherheit noch im Jugendknast sitzen, wenn wir beide schon längst auf der Uni sind. Alles was wir dafür brauchen, ist dein Okay‹‹, beendete Lukas seinen Vortrag.

»Mein Okay‹‹, wiederholte Lilly verwirrt, »Das heißt, dein Onkel hat noch kein Verfahren gegen Chris angefangen?‹‹

»Nein‹‹, erwiderte Lukas ernst, »Er musste mir versprechen, dass er nichts tut, bis ich nicht mit dir gesprochen habe.‹‹ Er sah besorgt zu Lilly auf.

»Ich wollte die Sache nicht noch schlimmer machen, aber ich konnte auch nicht einfach nur untätig rumsitzen, während dieser Typ in deiner Schule frei herumläuft und dich tyrannisiert. Das hast du nicht verdient. Ich…‹‹, ihm versagte die Stimme. »Ich bin verliebt in dich.‹‹, fügte er beinahe flüsternd hinzu.

Mit einem Mal stürzten alle Schutzwälle ein. Lilly brachen die Tränen aus, sie machte einen Schritt auf Lukas zu und umarmte ihn so fest sie konnte. Kurz schien er irritiert, dann erwiderte er ihre Umklammerung. So standen sie da und genossen die Nähe des anderen.

»Danke‹‹, flüsterte sie. Dann löste sie ihre Umarmung, doch sie trat nicht zurück, sondern schaute ganz tief in diese wundervoll grauen Augen. Lukas nahm ihren Kopf in seine Hände und sie küssten sich. Nicht so vorsichtig und sanft wie beim ersten Mal, sondern mit einer plötzlich aufflammenden Leidenschaft.

»Sieht ganz so aus, als würdet ihr beide euch wieder vertragen.‹‹ Lillys Vater war hinter ihr im Türrahmen aufgetaucht und grinste seine Tochter an. Sie und Lukas lösten sich eilig voneinander.

Lukas sah peinlich berührt zu Boden, aber Lilly drehte sich zu ihrem Vater um und sagte: »Papa, wir haben heute noch zu tun. Du musst mich zur Polizei fahren. Außerdem will ich, dass du mich auf dem Rückweg noch bei Becky und Sophie vorbeifährst. Ich muss mit den beiden reden.‹‹

Lillys Vater runzelte kurz die Stirn, doch dann schien er zu verstehen. »In Ordnung‹‹, meinte er, »Was ist mit Lukas?‹‹

Lilly drehte sich zu ihrem Freund um. »Möchtest du vielleicht zum Essen bleiben?‹‹

Lukas strahlte. »Das wäre toll.‹‹



The End.


2 Kommentare


Gast
20. Juni 2021

Nagel auf den Kopf getroffen! 👍

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Tim J. R. Ufer
Tim J. R. Ufer
24. Juni 2021
Antwort an

Freut mich, wenn dir die Geschichte gefallen hat! <3

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