Das Tagebuch - A Halloween Horror Story (Teil 2/2)
- Tim J. R. Ufer

- 10. Dez. 2021
- 22 Min. Lesezeit
Sonntag, 18:42 Uhr
Henry wurde von seinem Handyklingelton aus dem Lesefluss gerissen. Hastig legte er das Tagebuch aufgeklappt zur Seite und streckte sich, um an seine Hosentasche heranzukommen. Endlich bekam er sein Handy in die Finger und bestätigte den Anruf.
»Hey Schatz! Na, wie ist die Zugfahrt?«, erkundigte er sich.
»Ganz gut, aber mir ist langweilig«, beschwerte sich Anni in ihrem mitleidsheischendem Tonfall, dem Henry nur schwer widerstehen konnte.
»Soso, und jetzt soll ich dich wohl unterhalten, wie?«, neckte sie Henry.
»Korrekt«, bestätigte Anni schnippisch.
Henry schüttelte grinsend den Kopf. »Wo bist du denn gerade?«
Kurze Pause auf der anderen Seite der Leitung. »Keine Ahnung, die Namen der Käffer hier sagen mir alle nichts. Aber laut meiner App müsste ich in etwa einer Stunde bei dir sein.«
»In zwei Stunden schon?«, fragte Henry überrascht. Er nahm sein Handy kurz vom Ohr, um die Uhrzeit zu prüfen. Tatsächlich: Es war bereits 18:42 Uhr. Er hatte, ohne es zu bemerken, bereits über eine Stunde mit dem Lesen verbracht.
»Ach, möchtest du mich etwa nicht bei dir haben?«
»Doch, natürlich! Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es schon so spät ist. Ich war gerade mitten in einer spannenden Lektüre.«
»Ah ja, was liest du denn?«
»Äh, so ein neues Buch, das ich mir letztens gekauft habe. Du weißt schon… Fantasy… würde dich eh nicht interessieren«, log Henry hastig, denn auf einmal war es ihm peinlich, dass er in dem alten Tagebuch einer Fremden herumstöberte. Glücklicherweise hakte Anni nicht weiter nach.
»Na schön, dann überlasse ich dich mal wieder deinem Buch«, seufzte sie, »Dann kann ich noch ein, zwei Folgen Arcane schauen, bis ich da bin.«
»Mach das, wir sehen uns später. Ich hab dich lieb!«
»Hab dich auch lieb«, antwortete Anni und legte auf.
Henry seufzte und rückte das Kissen hinter sich zurecht. Draußen war es in der Zwischenzeit rabenschwarze Nacht geworden. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Tagebuch einfach zu entsorgen und lieber die Wohnung etwas herzurichten, bevor Anni kam. Doch inzwischen war er so neugierig auf die restlichen Einträge, dass er es einfach nicht über sich brachte, jetzt aufzuhören. Also machte es sich Henry erneut in seinem Sofa bequem und las weiter.
~ Sonntag, 07. Oktober ~
»Komm, wir haben lange genug im Bett gelegen. Du hast mir versprochen, dass wir heute die Wohnung putzen«, verkündete Hannah und löste sich aus Majas kuscheliger Umarmung.
Maja grummelte und vergrub sich noch tiefer in ihrer flauschigen Federdecke. Hannah spielte kurz mit dem Gedanken, Maja recht zu geben und sich ebenfalls wieder in die warmen Kissen zu kuscheln. Doch sie hatte sich fest vorgenommen an diesem Wochenende ihre Bleibe etwas wohnlicher zu gestalten. Und dafür musste zuerst einmal der ganze Staub und Dreck raus.
»Also ich fang dann schonmal an«, seufzte Hannah, schlüpfte in ihre rosa Hausschuhe und schlappte darin in Richtung Bad, wo sie ihre Putzlappen aufbewahrten. Mit Kehrwisch und Kelle bewaffnet kehrte sie zurück ins Wohnzimmer. Dort begann sie damit, Boden- und Schrankflächen von dem gröbsten Schmutz zu befreien. Anschließend waren die Fenster dran.
Hannah füllte einen großen Eimer mit Wasser, gab ein paar Spritzer Glasreiniger dazu und dann wischte und schrubbte sie, bis alles blitzeblank glänzte. Anschließend taumelte sie mit ihrem randvollen Eimer ins Bad, um das Wasser auszukippen. Sie wuchtete das volle Gefäß ächzend auf den Rand des Spülbeckens und kippte es um. Mit lautem Getöse rauschte das Wasser ins Spülbecken. Ans Abtauchen dachte das dreckige, schaumige Putzwasser aber überhaupt nicht. Stattdessen schwappte es glücklich im Becken auf und ab und gluckerte ab und zu ein wenig.
»Schatz? Ich glaube, der Abfluss ist verstopft«, rief Hannah über die Schulter.
»Warte, ich komme«, drang es aus dem Schlafzimmer. Kurz darauf war ein leises Tappen zu hören und eine verschlafene Maja tauchte in der Badtür auf.
»Ist es wirklich so schlimm?«, wollte sie gähnend wissen.
»Mhm, da rührt sich überhaupt nichts«, erwiderte Hannah mit Blick auf die braune Suppe im Spülbecken.
»Okay, ich rufe gleich morgen früh bei einem Klempner an. Der soll sich darum kümmern. Komm zurück ins Bett, da ist es schön warm.«
»Aber wir können das doch nicht einfach so lassen. Wir müssen uns ja auch die Hände waschen«, entgegnete Hannah.
»Du kannst dir die Hände in der Küche waschen«, schlug Maja vor. Hannah schüttelte den Kopf.
»Nein, ich will das jetzt erledigen. Geh du ruhig ins Bett, ich kümmere mich darum.«
Maja sah ihre Freundin zweifelnd an. »Wie du willst«, sagte sie schließlich und verschwand Richtung Schlafzimmer. Es dauerte nicht lange, bis Hannah ihre Entscheidung bereute. Ihr fiel auf, dass sie überhaupt kein Werkzeug hatte, um den Abfluss aufzuschrauben. Gleichzeitig wollte sie jetzt vor Maja auch nicht mehr klein bei geben. Also zog sie sich an, steckte einen Wohnungsschlüssel ein und trat hinaus in den Hausflur. Sie wollte bei einem der Nachbarn klingeln und schauen, ob sich so das nötige Werkzeug besorgen ließ.
Im Treppenhaus herrschten eisige Temperaturen. Sofort wünschte sich Hannah, sie hätte auch eine Jacke angezogen. Fröstelnd stapfte sie durch den Hausflur bis zur Tür ihrer direkten Nachbarin. Frau Brock hieß es auf dem Klingelschild. Hannah beschloss, dass Frau Brock wohl kaum so gruselig sein konnte wie der seltsame Nachbar von oben und betätigte die Klingel.
Aus der Wohnung konnte sie es laut und deutlich Läuten hören. Gleich darauf setzte ein gedämpftes Kläffen ein, gefolgt von einem schlurfenden Geräusch. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Hannah sah sich der alten Frau gegenüber, die sie bereits am ersten Tag draußen mit ihrem Pekingesen gesehen hatte. Der kleine Köter streckte ebenfalls seinen Kopf durch die Tür und musterte Hannah aus seinen kleinen schwarzen Knopfaugen.
Einige Sekunden verstrichen, bis sich Hannah schrecklich bewusst wurde, dass sie in der Erklärungsschuld lag.
»Ähm… also…«, eröffnete sie das Gespräch mit einem zusammenhangslosen Gestotter.
»Du bist doch eins von den Mädchen, die hier neu eingezogen sind. Was kann ich für dich tun, mein Schatz?«, unterbrach sie die alte Frau freundlich.
»Spülbecken… Werkzeug«, krächzte Hannah so oder so ähnlich und zum Glück verstand die Nachbarin sofort.
»Komm doch rein, Schätzchen. Den Werkzeugkoffer muss ich erst raussuchen, aber da findet sich bestimmt, was du suchst«, sagte die Nachbarin und bedeutete Hannah mit einer Handbewegung hereinzukommen. Zögernd kam Hannah der Aufforderung nach.
Das Erste, was Hannah unangenehm auffiel, war der Geruch. Ein süßlicher Duft hing in der Luft, aber er schien nur der Überlagerung zu dienen. Darunter lag eine unterschwellige Note der Verwesung in der Wohnung. Hannah wollte jedoch nicht unfreundlich erscheinen und versuchte möglichst durch den Mund zu atmen.
»Komm ruhig rein«, wiederholte die Nachbarin und winkte Hannah tiefer in die Wohnung. Dabei humpelte sie voran und schleifte ihr rechtes Bein hinter sich her. Jetzt konnte Hannah endlich sehen, weshalb sich die Nachbarin so seltsam bewegte. Ihr rechtes Bein stand in einem unnatürlichen Winkel zur Seite, als sei es bei einem heftigen Unfall gebrochen und anschließend falsch herum wieder zusammengewachsen.
»Schließt du bitte die Wohnungstür, Schätzchen? Es zieht so kalt rein und mein kaputtes Bein verträgt die Kälte nicht so gut, weißt du.«
Hannah erwachte aus ihrer Starre und schloss vorsichtig die Wohnungstür hinter sich, wobei sie ein ganz mulmiges Gefühl hatte. Der Pekingese stand immer noch vor ihr und betrachtete sie aufmerksam. Dann bellte er zweimal und tippelte seinem Frauchen hinterher ins Innere der Wohnung. Hannah folgte den beiden.
Im Wohnzimmer standen zu Hannahs Überraschung überall große und kleine Terrarien herum. Frau Brock schien eine leidenschaftliche Insektensammlerin zu sein. In den Glaskäfigen erkannte Hannah Spinnen, Fliegen, Schmetterlinge und vieles andere Getier, von dem sie nicht einmal die Namen kannte.
Während sich die Nachbarin in einem Nebenraum verschwand, um ihren Werkzeugkoffer zu holen (so hoffte Hannah zumindest), sah sich Hannah weiter um. Einmal abgesehen von den vielen Terrarien war die Wohnung ziemlich karg eingerichtet. Es stand keine Dekoration auf den Schränken und an den Wänden hingen keine Bilder. Hannah entdeckte nur ein einziges kleines Foto auf einem Schränkchen. Es zeigte die Nachbarin mit ihrem breiten Grinsen und tiefen Lachfältchen, wie sie neben einem kleinen Mädchen stand. Hannah runzelte die Stirn und betrachtete das Bild genauer. Irgendwie kam ihr das kleine Mädchen mit den schwarzen Haaren und den dunklen Augen seltsam bekannt vor.
»Ich sehe, du hast meine Nichte entdeckt.« Hannah zuckte zusammen als sie den warmen Atem ihrer Nachbarin plötzlich im Nacken spürte. Frau Brock grinste breit wie auf dem Foto. Es war ein merkwürdiges Grinsen, denn es wirkte überzogen und ihre Augen schienen nicht mitzulächeln.
Hannahs Blick wanderte zu der Rohrzange in der Hand der Nachbarin.
»Ach ja«, sagte die Nachbarin, als würde sie sich jetzt erst an den Grund für Hannahs Besuch erinnern, »Das sollte dir bei deinem Vorhaben helfen.« Sie reichte Hannah das Werkzeug. Die Zange lag kalt und schwer in Hannahs Händen.
»Vielen Dank«, presste Hannah hervor, die es keine Minute länger in dieser Wohnung aushielt. Hastig lief sie zur Wohnungstür… und musste feststellen, dass sie verschlossen war. Hinter sich hörte sie bereits das schlurfende Geräusch der Nachbarin.
Hannah rüttelte verzweifelt an der kühlen Türklinke, doch es war aussichtslos. Mit einem Herz, das ihr bis zum Hals klopfte, drehte sie sich um, die schwere Rohrzange nutzlos an die Brust gepresst.
»Oh entschuldige, ich schließe immer gleich ab. Eine alte Angewohnheit von mir«, entschuldigte sich Frau Brock, hinkte an Hannah vorbei und schloss die Tür auf. Sofort wehte ein kalter Luftzug aus dem Treppenhaus herein.
Hannah sagte kein Wort. Schnell verließ sie die Wohnung ihrer Nachbarin und wagte erst wieder zu atmen, als sie in ihren eigenen vier Wänden stand.
Henry schüttelte belustigt den Kopf. Sicher übertrieb diese Hannah in ihren Erzählungen ein wenig. Sicher, dieser Frank von oben war wirklich ein bisschen schräg, aber so gruselig, wie Hannah alles beschrieb, war es ja nun wirklich nicht. Schmunzelnd blätterte Henry auf die nächste Seite. Zu seiner Überraschung war der folgende Eintrag im Tagebuch erst auf fünf Tage später datiert.
~ Freitag, 12. Oktober ~
Am Freitagnachmittag kam Hannah völlig erschöpft von ihrem Job in dem kleinen Café in der Stadtmitte nach Hause. Müde schleppte sie sich den schmalen Kiespfad entlang bis zur Haustür, entriegelte diese und stieg die Treppen zu ihrer Wohnung im ersten Stock hoch. Der Nachbar von oben spielte schon wieder Klavier. Hannah störte das nicht.
Drinnen angekommen musste sie feststellen, dass ihre Freundin noch nicht daheim war. Maja hatte sich an diesem Nachmittag mit einem alten Bekannten in der Stadt verabredet. Hannah warf ihre schwere Herbstjacke neben der Tür auf den Boden (die Kleiderhaken waren längst bestellt, aber noch nicht angekommen) und taumelte ins Bad, um sich erstmal das Gesicht abzuwaschen.
»Ach, verdammt«, fluchte sie, als ihr Blick auf das randvolle Waschbecken fiel. Sie hatte es die ganze Woche über vor sich hergeschoben, den Abfluss zu reinigen und ihr Stolz hatte es ihr verboten, Maja zu bitten, doch einfach den Klempner zu rufen. Verärgert schlurfte Hannah in die Küche, um sie dort das Gesicht zu waschen. Anschließend fasste sie sich ein Herz und beschloss, das Unterfangen des verstopften Abflusses endlich anzugehen.
Also schnappte sie sich die schwere Rohrzange von ihrer Nachbarin, die noch immer im Eingangsflur lehnte und marschierte damit bewaffnet ins Badezimmer. Sie hatte sich vorher ein Video im Internet angesehen und wusste so ungefähr, was sie tun musste.
Hannah stellte einen großen Eimer unter das Waschbecken und drehte das Wasser ab. Dann machte sie sich daran, die Rohre aufzuschrauben. Das war schwerer als erwartet. Die Rohre waren schrecklich verkrustet und angerostet, sodass sich Hannah mächtig ins Zeug legen musste.
Endlich gab die Schraube knirschend nach und das Rohr lockerte sich. Hannah setzte bei der zweiten Schraube an, die im Gegensatz zu der ersten erstaunlich leicht zu lösen war. Mit einem einzigen Ruck löste sich die Verankerung, ein Teil des Abflussrohrs fiel scheppernd zu Boden und riss dabei den Putzeimer um. Hannah machte einen entsetzten Sprung zurück, denn im gleichen Moment platschte eine ekelerregende braune Flüssigkeit aus dem Abfluss und breitete sich in einer großen Pfütze auf dem Boden aus. Der Gestank verschlug Hannah beinahe den Atem. Es roch nach menschlichem Abfall und nach Verwesung. Große Haarbüschel und andere Dinge, die Hannah nicht identifizieren konnte, schwammen in der Pfütze.
Hannah würgte und bevor sie es verhindern konnte, übergab sie sich mitten auf dem Boden. Ihre Kotze vermischte sich mit der zähflüssigen Masse aus dem Abfluss.
Hustend und spuckend verließ Hannah das Bad und knallte von außen die Tür zu, um zu verhindern, dass sich der beißende Gestank in der ganzen Wohnung ausbreitete.
Draußen wankte Hannah in die Küche und spülte sich den bitteren Geschmack von Galle aus dem Mund. Dann lehnte sie sich an die Wand und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Eines stand fest: Sie wollte diese ekelhafte Pfütze in ihrem Bad so schnell wie möglich loswerden, aber sie hatte nicht genügend Putzzeug dafür. So wenig es ihr auch behagte, ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als einmal mehr bei ihrer Nachbarin zu klingeln und zu fragen, ob diese vielleicht einen zweiten Eimer und ein paar alte Wischlappen übrig hatte.
Hannah streifte ihre Schuhe über, steckte ihren Schlüsselbund ein und verließ die Wohnung. Von oben ertönte die Klaviermusik ihres Nachbarn.
Auf wackeligen Knien durchquerte Hannah den Flur und klingelte bei Frau Brock. Das Läuten der Klingel hallte ungewöhnlich laut bis ins Treppenhaus. Es dauerte nicht lange, bis Hannah den Grund dafür entdeckte. Die Wohnungstür war nur angelehnt! Von drinnen waren keinerlei Geräusche zu hören.
»Frau Brock?«, fragte Hannah zaghaft und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. »Frau Brock, sind Sie zuhause?«
Vorsichtig schob Hannah die Tür einen Spalt weit auf und lugte in die Wohnung. Kein Lebenszeichen. Vielleicht war die Nachbarin mit ihrem Hund spazieren gegangen und hatte vergessen, die Tür richtig zuzuschließen. Das erschien Hannah die plausibelste Erklärung zu sein.
Unruhig trat Hannah von einem Bein auf das andere und sah zurück zu ihrer Wohnungstür. Sie hatte keine Zeit, um auf die Rückkehr von Frau Brock zu warten. Diese Pfütze in ihrem Bad musste weg – und zwar jetzt gleich! Hannah wollte auf keinen Fall, dass Maja diese Sauerei mitansehen musste.
Also fasste Hannah einen Entschluss. Mit bis zum Hals klopfenden Herzen schob sie die Tür ihrer Nachbarin auf und trat in die leere Wohnung. Zu ihrer Überraschung erkannte sie dieses Mal den unangenehmen Geruch in der Wohnung sofort wieder. Es war der gleiche widerliche Gestank, wie er von der schleimigen Flüssigkeit aus dem Abfluss ausging, nur deutlich schwächer. Vermutlich hatte Frau Brock ähnliche Probleme mit ihrem Abfluss und versucht den Geruch durch tonnenweise Lufterfrischer irgendwie im Griff zu behalten.
Hannah schlich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Bei jedem kleinsten Geräusch erstarrte sie, hielt den Atem an und lauschte. Sie wollte auf keinen Fall von ihrer gruseligen Nachbarin dabei erwischt werden, wie sie in ihre Wohnung einbrach. Wer wusste schon, wie die alte Frau darauf reagieren würde.
Im Wohnzimmer angekommen überlegte Hannah, wo ihre Nachbarin wohl ihr Putzzeug aufbewahrte. Sie entschied, dass das Bad wohl der wahrscheinlichste Platz dafür war. Während Hannah das Wohnzimmer in Richtung Bad durchquerte wunderte sie sich erneut über die zahlreichen Terrarien, die überall herumstanden. Frau Brock schien wirklich ein außerordentlich großes Interesse an Insekten zu haben. Hannah war von dem Anblick im Vorbeigehen so gefesselt, dass sie geradewegs gegen den großen Schreibtisch stieß. Das Poltern dröhnte durch die Wohnung wie ein Paukenschlag. Erschrocken blieb Hannah stehen und lauschte, ob jemand kam. Doch es kam niemand.
Zum ersten Mal fiel ihr Blick auf den Schreibtisch. Dort lagen, fein säuberlich aufgereiht, etwa zwei Dutzend kleiner, schwarzer Würmer. Daneben lagen bunte Schmetterlingsflügel in verschiedenen Farben, immer paarweise nebeneinander.
Es dauerte einige Momente, bis Hannah klar wurde, dass es sich bei den Würmern keineswegs wirklich um Würmer handelte. Es waren Schmetterlinge, denen in feinster Handarbeit die Flügel ausgerissen worden waren. Einige der armen Dinger krümmten und wanden sich noch im verzweifelten Todeskampf. Hannah schloss daraus zweierlei: Erstens, ihre Nachbarin war eine kranke Psychopathin und zweitens, da die Schmetterlinge noch lebten, konnte das Flügelausreißen vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden haben, was bedeutete…
Hannah zuckte zusammen, denn plötzlich hörte sie leise Schritte auf dem Flur vor der Wohnung. Panisch sah sich Hannah nach einem Versteck um.
Die Nachbarin kam ins Wohnzimmer geschlurft. Neben ihr trottete der weiße Pekingese und schnüffelte in der Wohnung herum. Hannah, die sich hinter der Wohnzimmertür zusammengekauert hatte, betete, dass der Hund sie nicht verraten würde. Die Angst hatte sie so fest umklammert, dass sie nicht einmal bemerkte, dass der Hund der Nachbarin ein anderes Fell hatte als gestern noch. Außerdem war dieser Pekingese viel kleiner.
»Ah, herrlich, sie zappeln noch!«, murmelte die Nachbarin fröhlich, klaubte zwei sich windende Schmetterlingsmaden auf und betrachtete sie im kalten Herbstlicht, das durch die Fenster fiel. Dann steckte sie sich die beiden Würmchen in den Mund und kaute genüsslich darauf herum.
»Auch ein paar Würmchen, mein Schatz?«, fragte die Alte und Hannahs Herz setzte ein paar Schläge aus, bis ihr klar wurde, dass die Nachbarin nur mit ihrem Hund gesprochen hatte.
Sie warf ihrem Pekingesen eine Handvoll der gefolterten Schmetterlinge zu und der Pekingese schleckte sie fein säuberlich vom Boden ab.
»Mit Flügeln schmecken sie besser, aber dann zappeln sie nicht so schön«, murrte die Nachbarin und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Käfig mit den noch lebenden Schmetterlingen. Hannah wurde übel.
Glücklicherweise schien sich Frau Brock ihren Nachtisch für später aufheben zu wollen.
»Komm, mein Schatz, ich geb dir was zu trinken«, sagte sie und verschwand mit ihrem Hund in der Küche. Das war der Moment, auf den Hannah gewartet hatte. Blitzschnell kam sie aus ihrem Versteck hervor und huschte so leise wie möglich zur Wohnungstür. Sie drückte hastig die Klinke herunter… und erinnerte sich, dass die Nachbarin ihre Türe immer sorgfältig abschloss.
»Hast du das auch gehört?«, ertönte die Stimme der Nachbarin aus dem Nebenzimmer. »Klingt fast so, als wäre uns jemand in die Falle gelaufen, oder, mein Schatz?«
Hannah brach der Schweiß aus. Verzweifelt rüttelte sie an der Türklinke, diesmal fester und ohne darauf zu achten, dass sie einen Höllenlärm veranstaltete. Aus Richtung des Wohnzimmers näherten sich schnell die humpelnden Schritte der Nachbarin.
Es war aussichtslos. Der einzige Weg nach draußen war verschlossen. Hannah sah sich panisch um. Ihr Blick wanderte zur Badtür, die direkt an den Eingangsbereich der Wohnung grenzte. Ohne zu zögern, stürmte sie hinein und schloss hinter sich ab. Sie wirbelte herum und konnte gerade noch einen spitzen Schrei unterdrücken.
Sie war nicht allein im Bad. Der alte Pekingese der Nachbarin hing mit dem Kopf voran in der Kloschüssel. Seine Beinchen hingen verdreht an ihm herab, der Rumpf lehnte schlaff am Toilettendeckel. Offenbar hatte Frau Brock ihren Schoßhund ertränkt.
Ritsch! Ratsch!
Dieses Mal schrie Hannah wirklich auf. Scharfe Fingernägel kratzten von außen gegen die Badtür. Erst langsam, dann immer schneller. Einen Augenblick später erzitterte die Tür unter heftigen Schlägen. Die Nachbarin rammte von außen ihren Kopf gegen die Tür. Immer und immer wieder.
Hannahs Gehirn schaltete auf Überlebensmodus um. Sie ignorierte den schlaffen Hund in der Kloschüssel, sprintete zu dem kleinen Fenster auf der anderen Seite und zog es auf. Die kalte Abendluft schlug ihr wie eine Faust ins Gesicht. Hannah warf einen verzweifelten Blick unter sich. Sie befand sich im ersten Stock. Drei Meter weiter unten befand sich eine breite Hecke. Hannah war so verängstigt, dass sie nicht länger über den Sprung nachdachte. Verzweifelt presste sie sich durch den schmalen Fensterrahmen und stürzte halsüberkopf in die Tiefe.
Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich schwerelos. Dann landete sie mit dem Gesicht voran im Dornengestrüpp. Hannah wurde kurz schwarz vor Augen. Mühsam befreite sie sich aus der scharfen Umklammerung der Hecke, rappelte sich auf und stürmte davon. Weg von dem kleinen Badfenster, weg von diesem Horror-Haus.
Sonntag, 19:38 Uhr
Henry kicherte in sich hinein. Diese Hannah hatte wirklich eine blühende Fantasie. Ihr Alltag musste so langweilig gewesen sein, dass sie sich solche Dinge ausgedacht hatte, um ihrem Leben mehr Spannung zu verleihen. Henry legte das Tagebuch zur Seite und warf einmal mehr einen Blick auf sein Handy. Es war 19:39 Uhr. Annis Zug kam bereits in einer Viertelstunde im Bahnhof an!
Fluchend sprang Henry auf. Er ließ das Tagebuch aufgeklappt auf dem Sofa liegen, schlüpfte eilig in seine Schuhe und warf sich seine Jacke über. Er vergewisserte sich, dass er Auto- und Hausschlüssel in der Hosentasche hatte und verließ hastig die Wohnung.
Draußen im Treppenhaus war es nach wie vor stockdunkel. Henry schaltete seine Taschenlampe ein und wollte gerade die Treppe nach unten nehmen, als sein Blick flüchtig auf die Wohnungstür gegenüber fiel. Sie stand kaum merklich einen Spaltbreit offen.
Ein Schauer lief Henry über den Rücken als er sich an die Geschichte aus dem Tagebuch erinnerte. Doch dann übernahm sein logischer Verstand wieder die Kontrolle. Hannah hatte sich das alles nur ausgedacht, so viel war amtlich. Vermutlich hatte die Nachbarin von nebenan nur vergessen, ihre Tür richtig zuzumachen.
Henry beschloss, die offene Tür einfach zu ignorieren und stieg die Treppen herab. Es war totenstill im Haus. Henry öffnete die Haustür und trat hinaus auf den Kiesweg.
Was Henry nicht wusste, war, dass Hannah an jenem Freitag vor einem Jahr, noch ein weiteres, außerordentlich seltsames Erlebnis hatte, das sie später allerdings so weit verdrängte, dass sie es nicht einmal in ihr privates Tagebuch schrieb. Nachdem sie sich nämlich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder einigermaßen klar denken konnte, stellte sie fest, dass sie ihr Handy in der Wohnung liegen gelassen hatte. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass es schon recht spät war und Maja jederzeit von ihrem Treffen heimkehren konnte.
Obwohl sich Hannah mittlerweile nicht mehr so sicher war, wie viel von den Dingen, die in der Wohnung der Nachbarin passiert waren, wirklich real waren, musste sie doch ihre Freundin warnen. Vielleicht war Frau Brock ja tatsächlich eine unberechenbare Psychokillerin.
Also kehrte Hannah vorsichtig zu dem alten, renovierungsbedürftigen Mehrfamilienhaus zurück und spähte von außen durch den Zaun auf das Grundstück. Es war niemand zu sehen. In dem Fenster des Nachbarn ganz oben brannte Licht. Ansonsten war es dunkel.
Vorsichtig öffnete Hannah das Zauntor und überquerte gebückt den Kiesweg. Obgleich keine Menschenseele zu sehen war, fühlte sie sich beobachtet.
An der Haustür angekommen zog Hannah mit zitternden Fingern ihre Schlüssel aus der Hosentasche und pfriemelte den Hausschlüssel ins Schloss. Kurz überlegte sie, ob sie das Treppenlicht anmachen sollte und entschied sich am Ende dafür. Wenn ihr irgendwo im Treppenhaus die verrückte Nachbarin auflauerte, dann wollte Hannah sie vorher sehen können. Doch zu Hannahs Überraschung lauerte im Treppenhaus keine insektenfressende Hundemörderin. Es war alles ruhig.
»Umso besser!«, dachte Hannah und überquerte die letzten Meter zu ihrer Wohnungstür im Schnellschritt. Hastig schloss sie die Tür auf, huschte durch den Spalt und sperrte hinter ihr sofort wieder ab.
Erleichtert lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wohnungstür und rutschte langsam daran herunter, bis sie mit dem Hintern auf dem nackten Fußboden saß. In diesem Moment fiel ihr Blick nach rechts, wo sich das Badezimmer befand. Die Badtür stand einen Spalt breit offen und es schimmerte Licht dahinter hervor. Doch da war noch etwas anderes, was Hannah beunruhigte. Aus dem Bad drang ein kaltes, schlürfendes Geräusch. Es war sehr leise, aber dennoch laut genug, um keine Zweifel zu lassen, dass Hannah es sich nicht nur einbildete.
Ganz langsam und so lautlos wie möglich, stand Hannah vom Boden auf. Sie wagte es kaum zu atmen, als sie sich Zentimeter um Zentimeter in Richtung Badtür bewegte. Als sie schließlich direkt davor stand, drückte sie leicht gegen die offene Tür und lugte durch den größer werdenden Spalt.
Im ersten Moment fiel ihr ein großer Stein vom Herzen. Die Erleichterung war so groß, dass Hannah alle ihre Vorsicht fahren ließ.
»Maja, du bist es! Ich wusste nicht, dass du schon zuhause bist.«
Maja hob ihren Kopf von der ekelerregenden Pfütze auf dem Boden und das schlürfende Geräusch erstarb. Ganz langsam drehte sie sich um. Aus ihrem Mund hing etwas, das Hannah zuerst für ihre Zunge hielt, doch dafür war es viel zu lang und es zuckte umher wie ein eigenständiges Lebewesen. Einen Augenblick später war das Ding in Majas Mund verschwunden und Hannahs Freundin wischte sich hastig mit dem Ärmel ihres Pullovers über den Mund.
»Hallo Schatz, ich bin auch gerade erst gekommen«, sagte sie, als sei alles normal, und stand von der Pfütze auf. Ihre gesamte Kleidung triefte von der ekelerregenden Flüssigkeit aus dem Abfluss. Hannah war sich mittlerweile sicher, dass es zu einem Großteil aus verrottendem Blut bestehen musste.
Stocksteif stand sie da und starrte ihre blutdurchtränkte Freundin an. Maja bemerkte den Blick und sah an sich herab.
»Oh je, was eine Sauerei«, schimpfte sie, »Ich bin voll ausgerutscht und mit dem Gesicht voran in diese ekelhafte Pfütze gefallen. Das ist sowas von widerlich!«
Hannah antwortete nicht. In ihrem Kopf ratterte es. Was war dieses Ding in Majas Mund gewesen. Und konnte es wirklich stimmen, dass Maja nur ausgerutscht war. Hannah hatte ganz eindeutig ein Schlürfen gehört.
»Ich muss jetzt erstmal duschen und was Neues anziehen. Dann mache ich diesen Dreck hier sauber«, versprach Maja und zog sich ihren blutdurchtränkten Pullover über den Kopf.
»Ist gut, ich warte dann im Wohnzimmer«, brachte Hannah schließlich heraus. Sie verließ das Bad und steuerte wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen das Sofa an. Erschöpft warf sie sich auf das Möbel und versuchte ihre wild umherwirbelnden Gedanken zu ordnen.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte sie sich, »Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht.« Aber mittlerweile war das Adrenalin aus ihrem Blutkreislauf verschwunden und hinterließ eine bleischwere Müdigkeit. Hannah beschloss, dass sie sich den Vorfall mit Maja nur eingebildet haben konnte. Vermutlich war sie noch so durcheinander von ihrem Zusammentreffen mit der Nachbarin, dass sie schon anfing zu fantasieren. Morgen früh würde sich sicher alles von alleine klären. Bis dahin brauchte Hannah erstmal eine gesunde Mütze Schlaf.
Hannah legte sich längs auf das Sofa und war in wenigen Minuten eingeschlafen. Sie sah deswegen auch nicht mehr, wie Maja aus dem Bad schlich und sie von der Wohnzimmertür aus beobachtete. Sie bemerkte auch nicht, wie Maja anschließend ins Bad zurückkehrte und die Schlürfgeräusche von Neuem begannen. All das ging an Hannah vorbei und am nächsten Morgen wachte sie mit dem Gefühl auf, das alles halb so schlimm gewesen sei.
Sonntag, 20:33 Uhr
Als Henry und Anni endlich den schmalen Kiesweg im Vorgarten ihres neuen Zuhauses betraten, war es bereits kurz nach halb neun. Annis Zug hatte sich doch ein wenig verspätet und Henry hatte sich auf dem Rückweg in einem der Käffer verfahren, das auf dem Weg vom Bahnhof zu ihrer neuen Wohnung lag.
»Ach, ich fühle mich jetzt schon wie Zuhause«, seufzte Anni, während die sich die beiden der Haustür näherten. Der Kies unter ihren Füßen knirschte.
»Warte erst, bis du unsere Wohnung von innen siehst«, beteuerte Henry. Er schloss die Haustür auf.
»Ah, hab ich ganz vergessen. Das Flurlicht ist kaputt«, brummte er und schaltete seine Handytaschenlampe ein.
»Nach Ihnen.« Er zwinkerte seiner Freundin zu.
Anni deutete einen Knicks an und marschierte lächelnd voran in den dunklen Treppenhausflur.
Eine Etage höher fiel Henry auf, dass die Tür der Nachbarin mittlerweile geschlossen war. Das beruhigte ihn. Offenbar war sie nur kurz außer Haus gewesen und hatte dabei ihre Tür nicht richtig zu gemacht.
»Kommst du, Schatz?« Anni hatte in der Zwischenzeit die Wohnungstür geöffnet und stand nun ungeduldig auf der Schwelle.
Henry warf einen letzten Blick in den dunklen Flur. Dann folgte er seiner Freundin ins behaglich warme Innere ihrer gemeinsamen Wohnung. Während Henry seine Schuhe und seine Jacke auszog, erkundete Anni bereits das Wohnzimmer.
»Ist das die geheimnisvolle Lektüre, von der du mir erzählt hast?«, wollte Anni wissen. Sie hatte das Tagebuch entdeckt. Lachend schlug sie es auf…
In diesem Moment betrat auch Henry das Zimmer. »Tut mir leid, dass ich ein bisschen geflunkert hab. Ich hab das Buch in der Wohnung gefunden und konnte nicht…«
Jetzt erst fiel Henrys Blick auf seine Freundin. Sie stand stocksteif da, ihr Gesicht zu einer starren Grimasse verzogen. Ihre Finger zitterten, so fest waren sie in das dunkle Leder gekrallt. Henry erschrak, denn so hatte er Anni noch nie erlebt.
»Schatz, es tut mir leid, ich…«, setzte er an, doch in diesem Moment verschwand der brutale Ausdruck auf Annis Gesicht. Sie lächelte sogar, als sie sich jetzt Henry zuwandte.
»Schon okay, ich wäre wahrscheinlich auch zu neugierig gewesen.« Sie reichte Henry das Buch, der es perplex entgegennahm.
»Sorry, ich habe ein wenig überreagiert. Wie wär’s, wenn wir das Buch zusammen fertig lesen. Dann haben wir immerhin beide etwas davon.«
»Okay?«, fragte Henry verwirrt. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf.
»Ich bin sowieso müde nach der langen Zugfahrt«, gestand Anni und gähnte ausgiebig, »Lass uns schonmal ins Bett gehen.«
Henry nickte nur. Er konnte die Reaktion seiner Freundin immer noch nicht ganz verstehen. Erst hatte sie ausgesehen, als würde sie gleich vor Wut explodieren und jetzt schlug sie vor, das Buch zusammen zu lesen. Henry beschloss, einfach nicht auf das Thema einzugehen.
Wenige Minuten später kuschelten die beiden in ihrem gemütlichen Doppelbett. Henry saß ein wenig aufrecht an die Rückwand des Bettes gelehnt mit dem Tagebuch auf dem Schoß. Anni schmiegte sich an seine rechte Schulter.
»Und du bist dir sicher, dass du das lesen willst?«, fragte Henry sicherheitshalber nach.
»Auf jeden Fall. Du hast gesagt, es sei spannend, oder?«
»Na schön, wie du willst. Aber ich muss dich warnen, es ist auch ein bisschen gruselig«, entgegnete Henry.
»Umso besser«, flüsterte Anni und kuschelte sich noch enger an ihren Freund.
Also schlug Henry das Tagebuch auf und begann laut vorzulesen.
~ Samstag, 13. Oktober ~
Als Hannah am nächsten Morgen erwachte, wunderte sie sich, weshalb sie auf dem Sofa lag. Sie befand sich allein im Wohnzimmer, von draußen fielen die ersten Strahlen der frühen Morgensonne herein. Der blaue Himmel versprach einen goldenen Herbsttag.
Hannah setzte sich auf und rieb sich die Augen. Dabei bemerkte sie, dass ihr ein wenig schwindelig war. Sie runzelte die Stirn. Dabei hatte sie gestern doch gar nichts getrunken. Oder doch? Zu ihrer Verblüffung stellte sie fest, dass sie sich an den gestrigen Abend überhaupt nicht erinnern konnte.
»Naja, muss wohl eine anstrengende Schicht gewesen sein gestern«, dachte Hannah und gähnte. Nachdenklich stand sie auf und ging ins Bad. Sie wunderte sich nicht darüber, dass der Boden blitzeblank geputzt war.
Nach ihrem morgendlichen Waschgang schlurfte Hannah ins Schlafzimmer. Und wieder wurde Hannah überrascht. Das Doppelbett war leer. Offenbar war Maja bereits aufgestanden und außer Haus gegangen.
Kurz überlegte Hannah, ob sie ihre Freundin sicherheitshalber anrufen sollte, doch dann dachte sie, dass Maja vermutlich nur Brötchen holen gegangen war. Während sie so herumstand und überlegte, was sie mit ihrer Zeit bis zum Frühstück anfangen sollte, fiel ihr Blick auf den überquellenden Müllsack, der in der Ecke des Zimmers stand.
»Den sollte dringend mal jemand leeren«, befand Hannah. Etwa eine halbe Minute lang focht sie ein stummes Blickduell mit dem Müllsack aus. Dann seufzte sie schließlich und nahm den Müll in die Hand, um ihn nach draußen zu bringen.
Die kalte Morgenluft tat gut und weckte Hannahs Lebensgeister. Sie marschierte mit dem prall gefüllten Müllsack über den Kiesweg im Vorgarten und steuerte geradewegs die großen Mülltonnen am Straßenrand an. An der Straße angekommen ließ Hannah den Müllsack neben sich auf den Gehweg plumpsen und öffnete den Deckel der Restmülltonne. In diesem Moment fiel Hannahs Blick auf eine Gestalt am anderen Ende der Straße. Es war die Nachbarin mit dem kleinen Hund. Ein ungutes Gefühl breitete sich in Hannahs Magengegend aus, doch sie konnte es nicht so richtig zuordnen. Unsicher lächelnd winkte sie ihrer Nachbarin zu.
Die Nachbarin winkte nicht zurück. Dafür beschleunigte sie ihr Tempo und hinkte auf einmal doppelt so schnell auf Hannah zu. Noch war sie einige hundert Meter entfernt. Das flaue Gefühl in Hannahs Bauch verstärkte sich weiter, doch sie brachte es eher damit in Verbindung, dass sie den ganzen Morgen nichts gegessen hatte.
Gemütlich beugte sie sich herunter, um den Müllsack aufzuheben und in die Tonne zu werfen. Dabei stockte sie. Ganz oben auf dem Verpackungsmüll lag eine Spritze. Oben an der Nadel klebte ein wenig Blut.
Was hatte eine gebrauchte Spritze in ihrem Abfall zu suchen? Nahm Maja etwa heimlich Drogen?
In diesem Moment fiel Hannah ein leichtes Zwicken in ihrer linken Armbeuge auf. Verwirrt schob sie ihren Ärmel nach oben und tatsächlich… da war eine kleine Einstichwunde. Gedankenverloren hob Hannah ihren Blick. Sie erschrak ein wenig als sie sah, dass die Nachbarin mittlerweile bis auf fünfzig Meter an sie herangekommen war. Die grauen Haare der Frau standen wild zu allen Seiten ab, ihre Bewegungen waren ruckartig und mechanisch. Auf ihrem Gesicht stand ein irres Grinsen.
Hannahs Körper begann plötzlich zu zittern. Bildfetzen schossen ihr durch den Kopf und sie hatte das schreckliche Gefühl, etwas sehr Wichtiges vergessen oder verdrängt zu haben. Aus einem Impuls heraus handelnd, drehte Hannah sich um und rannte so schnell sie konnte zurück zum Haus. Hinter sich konnte sie den keuchenden Atem ihrer Nachbarin hören. Mit bebenden Fingern schloss Hannah die schwere Haustür auf. Atemlos sprintete sie den dunklen Hausflur entlang, die Treppe nach oben bis zu ihrer Wohnung. Sie war so durcheinander, dass sie sich nicht einmal wunderte, dass ihre eigene Wohnungstür offen stand. Hannah rannte einfach hinein und warf hinter sich die Tür ins Schloss. Schwer atmend stand sie da und lauschte.
Auf einmal war es wieder totenstill im Haus. Von den trampelnden Schritten der Nachbarin war nichts zu hören. Hannah wurde schwindelig. Keuchend schleppte sie sich ins Wohnzimmer und kramte ihr Tagebuch hervor. Sie war sich sicher, den letzten Tag ausführlich dokumentiert zu haben.
Hannah setzte sich aufs Sofa und schlug ihr Tagebuch auf. Beim Lesen krampfte sich ihr Magen zusammen. Der Drang aufzustehen und zu flüchten, wurde immer stärker. Aber vor allem wurde ihr eines klar. Schnell kritzelte sie die Vorkommnisse des Vormittags in das Tagebuch, um es nachlesen zu können, sollte sie wieder unter Drogen gesetzt werden. Anschließend notierte sie drei einfache Worte in großen schwarzen Lettern und bei jedem einzelnen Buchstaben lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Zur Sicherheit nahm sie ihr Portemonnaie aus ihrer Jackentasche, zog das kleine Foto hervor, das sie immer bei sich trug und klebte es in das Tagebuch. Sie war gerade fertig geworden, als sie Schritte im Nebenraum hörte. Hastig klappte Hannah ihr Tagebuch zu und sah sich nach einem Versteck um. Da ihr auf die Schnelle nichts Besseres einfiel, öffnete sie den Bezug eines der Sofakissen und schob das Tagebuch hinein, um es später wieder herausholen zu können. Gerade rechtzeitig rückte sie das Kissen zurecht und blickte auf.
»Hallo Schatz.« Maja stand im Türrahmen zum Schlafzimmer. Sie nuschelte ein wenig, was daran lag, dass ein daumendicker schwarzer Wurm aus ihrem Mund ragte und sich mit schnappenden Kauwerkzeugen umherwand. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Spritze.
»Zeit fürs Frühstück.«
Sonntag, 20:59 Uhr
»Was ist los? Wieso liest du nicht weiter?«
Henry antwortete nicht. Versteinert starrte er auf die letzte beschriebene Seite des Tagebuchs. Dort stand ein einziger Satz und darunter klebte ein leicht verwackeltes Foto, vermutlich mit einer Handykamera aufgenommen.
»Schatz, was ist denn?«
Es ist Maja.
Es waren drei einfache Worte. Doch es war ohnehin nicht der Satz, der Henry das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war das Foto. Es zeigte zwei hübsche junge Mädchen, etwa in Henrys Alter, die dicht aneinander gekuschelt in die Kamera grinsten. Das linke Gesicht musste wohl zu Hannah gehören. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit kleinen Lachgrübchen und strahlenden, graphitgrauen Augen. Das Mädchen neben ihr war etwas kleiner, hatte langes, schwarzes Haar und dunkle Augen, die hinter einer Brille mit großen Rundgläsern hervorlugten. Trotz der anderen Frisur und der Brille erkannte Henry das Mädchen sofort.
Das Mädchen auf dem Foto war Anni.
»Du hättest dieses Buch nicht finden dürfen«, flüsterte sie ihrem Freund ins Ohr. Dabei drang noch ein anderes Geräusch aus ihrem Mund. Das knirschende Knacken von kleinen, gefräßigen Kauwerkzeugen. Bevor Henry sich wehren konnte, spürte er einen stechenden Schmerz im Ohr als sich der Wurm aus Annis Mund in sein weiches Fleisch grub. Das Wesen bohrte sich in Henrys Kopf, fraß sich durch seinen Rachenraum und und drang in seine Luftröhre.
Henry schnappte nach Luft, doch er konnte nicht mehr atmen. Sein Blickfeld verschwamm. Da war überall Blut. Henry krümmte sich, das Tagebuch fiel ihm aus der Hand und purzelte auf den Boden neben dem Bett. Dort blieb es liegen, bis die zuckenden Bewegungen von Henry erstarben und nur noch ein kaltes, schlürfendes Geräusch zu hören war.
Happy Halloween, meine Freunde.
Dieses Jahr etwas verspätet 😊
Tim J. R. Ufer, 25.11.2021



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