Das Tagebuch - A Halloween Horror Story (Teil 1/2)
- Tim J. R. Ufer

- 10. Dez. 2021
- 16 Min. Lesezeit
Sonntag, 17:23 Uhr
Henry sog die kühle Herbstluft ein. Er fröstelte ein wenig als er das schwere Zauntor aufdrückte und den Innenhof des Grundstücks betrat. Es war schon dunkel draußen, doch der orangene Schimmer einer nahen Straßenlaterne tauchte zumindest die ersten Meter der Einfahrt in ein schwaches Licht. Das Auto mit all seinen Habseligkeiten ließ Henry an der Straße stehen. Er wollte zuerst in aller Ruhe einen Blick auf seine neue Bleibe werfen, bevor er mit dem anstrengenden Einzug begann.
Der Garten vor dem baufälligen Mehrfamilienhaus musste schon seit Jahrzehnten keine Gartenschere mehr gesehen haben, denn trotz der Dunkelheit konnte Henry überall das wuchernde Unkraut und Gestrüpp ausmachen, das sich im Vorhof breit gemacht hatte wie ein dornenbesetztes Krebsgeschwür. Eine Reihe schiefer Apfelbäume mit knorrigen Fingern säumte den schmalen Kieselweg, der vom Zauntor bis zur Haustür führte.
All das kam Henry vor wie das Paradies auf Erden. Mit federnden Schritten spazierte er über den knirschenden Kies und fühlte sich dabei wie ein Abenteurer, der einen frisch entdeckten Kontinent abschritt. Heute bezog er seine erste Wohnung! Er bedauerte es ein wenig, dass Anni mit dem Zug fahren musste und dadurch erst in ein paar Stunden eintreffen würde. Am liebsten hätte er ihr neues Zuhause gleich gemeinsam erkundet. Andererseits, dachte Henry, würde dafür in den nächsten Tagen noch reichlich Zeit sein. Das Semester begann erst in ein paar Wochen und bis dahin konnten sie sich in Ruhe häuslich einrichten.
An der durch ein kleines Wandlicht beleuchtenden Haustür blieb Henry stehen und bewunderte für einige Sekunden den fein gearbeiteten Türknauf, dessen Ende ein metallischer Hundekopf zierte. Dann kramte er in seiner Manteltasche nach seinen Schlüsseln.
Die Schlüssel hatte Henry bereits einige Tage zuvor per Post an die Adresse seiner Eltern geschickt bekommen. Der Vermieter war ein alter Mann, der seinen Lebensabend drüben an der französischen Côte d’Azur verbrachte. Um das Haus kümmerte sich in der Zwischenzeit ein ziemlich griesgrämiger Hausverwalter, den Henry und Anni nur kurz bei ihrer ersten Wohnungsbesichtigung kennengelernt hatten.
Anders als vor ein paar Wochen wirkte das Gebäude jetzt beinahe unheimlich still. Die Rollläden an den Seiten waren bis auf einen Spalt heruntergelassen, in den Zimmern dahinter herrschte Finsternis. Bis auf das Rascheln des toten Laubs, das überall auf dem Boden verstreut lag, und das vereinzelte Schuhuen eines Nachtvogels war kein Geräusch zu hören.
Henry kümmerte sich nicht darum. Er hatte sowieso lieber seine Ruhe und wenn seine Nachbarn zurzeit außer Haus waren, sollte ihm das nur recht sein! Nachdenklich fummelte er an seinem Schlüsselbund und versuchte sich daran zu erinnern, welcher Schlüssel für welches Schloss gedacht war.
»Der Kleine ist für den Briefkasten«, riet Henry und grenzte den kleinsten Schlüssel schonmal aus seinen Überlegungen aus. Übrig blieben ein Schlüssel für den Schuppen hinter dem Haus, in dem Henry sein Fahrrad unterbringen wollte, ein Wohnungstür- und der Haustürschlüssel. Nach einigem Überlegen zuckte Henry mit den Schultern und schob einfach einen der Schlüssel ins Schloss. Kurz hakte es, doch dann glitt das gezackte Entriegelungsinstrument in die schmale Öffnung.
»Na, läuft doch wie geschmiert!«, freute sich Henry und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Mit einem befriedigenden Klicken schwang die Haustür auf und gab einen düsteren Eingangsbereich preis, der nach wenigen Metern bereits in eine Treppe überging. Henry trat einen Schritt in die Dunkelheit und tastete mit seinen Fingern nach dem Lichtschalter. Einige Augenblicke tappten seine Finger ins Leere, dann fand er den Schalter und legte ihn um. Es ertönte ein vielversprechendes Klick!, aber das Licht blieb aus.
Henry seufzte. Er wollte einige Möbel in den ersten Stock schleppen und ohne Beleuchtung würde das eine Sache der Unmöglichkeit werden. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Hausverwalter anzurufen, doch er verwarf die Idee schnell wieder. Es war Sonntagnachmittag und der Hausverwalter war nicht gerade eine Frohnatur. Henry beschloss, mit dem vollständigen Einzug bis zum nächsten Tag zu warten und heute nur Annis und sein wichtigstes Hab und Gut in die Wohnung zu bringen. Essen konnten sie auf dem Boden und ein Doppelbett stand bereits drinnen.
Der Gedanke gefiel ihm. Dieser Umzug war sowieso ein Abenteuer. Warum also nicht die erste Mahlzeit feierlich auf dem Fußboden einnehmen?
Mit frischer Entschlossenheit trat Henry über die Schwelle. Hinter ihm fiel die schwere Haustür krachend ins Schloss. Mit einem Schlag wurde es finster um Henry.
So ein Mist!, fluchte er. Mühsam fischte er sein Smartphone aus der Hosentasche, um den Taschenlampenmodus zu aktivieren.
In diesem Moment horchte er auf.
flap. flap. flap.
Da war ein Geräusch. Es schien aus dem Untergeschoss zu kommen. Henry runzelte die Stirn und spitzte die Ohren. Was konnte das sein?
Flap. Flap. Flap. Flap.
Das Geräusch wurde lauter. Noch immer war es um Henry herum stockdunkel. Hastig fummelte er an seinem Handy herum und drückte auf den Einschaltknopf. Sofort wurde er von dem aufflammenden Display geblendet.
Flap! Flap! Flap! Flap! Flap!
Die Geräusche erinnerten an eine Person, die mit Flossen über Steinfliesen tappte. Mittlerweile konnte die Quelle der Geräusche nicht mehr weit von der Treppe ein Stockwerk tiefer entfernt sein. Die Abstände zwischen den Schritten verringerten sich, was bedeutete, dass die Person ihr Tempo erhöhte.
Obwohl Henry wusste, dass er nichts zu befürchten hatte, bekam er es urplötzlich mit der Panik zu tun. Es war keine rationale Angst vor etwas bestimmtem, eher diese lähmende Furcht vor dem Unbekannten in der Dunkelheit, die jeder Mensch schonmal verspürt hat.
Endlich schaffte es Henry, die Taschenlampe auf seinem Handy zu aktivieren. Ein blasses, weißes Licht erhellte das Treppenhaus.
Die Schritte im Untergeschoss verstummten abrupt. Henry wagte es nicht zu atmen. Wie versteinert stand er da und wartete, sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkasten.
Stille.
Ganz vorsichtig machte Henry einen Schritt nach vorne. Dann ließ er alle Vorsicht fahren und stürmte die Treppe hoch zu seiner Wohnungstür. Hinter ihm setzten die Geräusche wieder ein, diesmal schneller, dringlicher.
Flap! Flap! Flap! Flap! Flap! Flap! Flap!
Henry erreichte die Wohnungstür. Mit zitternden Fingern machte er sich an seinem Schlüsselbund zu schaffen. Welchen Schlüssel hatte er nochmal für die Haustür benutzt? Den langen mit den vielen Zacken oder den etwas breiteren mit den tiefen Rillen an der Seite? Oder doch den etwas kürzeren Schlüssel mit dem runden Haltegriff? Henry fluchte leise und pfriemelte auf gut Glück den Kurzen Schlüssel ins Schloss. Er rutschte ab und das gesamte Schlüsselbund fiel klirrend zu Boden.
Flap! Flap! Flap! Flap! Flap! Flap! Flap!
Jetzt waren die Schritte auf der Treppe. Wer oder was auch immer diese Geräusche verursachte, würde gleich bei ihm sein.
Henry wagte nicht, über die Schulter zu leuchten und zu sehen, was da auf ihn zu kam. Hastig bückte er sich, seine Fingernägel kratzten über den kalten Steinboden. Endlich fanden seine unbeholfenen Hände ihr Ziel und Henry richtete sich wieder auf. Mit bebenden Fingern umklammerte er den Schlüssel mit dem runden Haltegriff, rammte ihn ins Schloss seiner Wohnungstür und drehte ihn herum. Es klickte. Erleichtert atmete Henry aus.
Erst jetzt bemerkte er, dass die Geräusche hinter ihm verstummt waren. Da war nur sein eigener gehetzter Atem… nein, da war noch etwas anderes. Ein zweiter Atem, flach und pfeifend, direkt hinter ihm. Henry rührte keinen Muskel. Sein gesamter Körper verkrampfte sich zu einer bewegungslosen Statue.
»Du meine Güte, Sie haben es aber eilig.«
Der Junge traute seinen Ohren nicht. Hatte dieses Etwas hinter ihm ihn gerade gesiezt? Ganz langsam drehte er sich um… und blickte in die Augen eines Mannes mittleren Alters. Der Mann war auf seinem Eierkopf und im Gesicht völlig glattrasiert, seine Augen standen etwas zu eng beisammen, ganz im Gegenteil zu seinen weit abstehenden Segelohren. In seinem karierten Schlafmantel und den hellblauen Flipflops wirkte er alles andere als bedrohlich.
Beim Anblick des freundlich lächelnden Nachbarn brach Henry in einen kurzen Lacher aus, so erleichtert war er, hinter sich keinen blutverschmierten Axtmörder vorzufinden. Gleichzeitig, da er so in Ruhe nochmal über die Situation nachdachte, kam ihm seine ganze Panik reichlich dumm vor.
»Ich bin der Neue im Haus. Gerade erst angekommen«, grüßte er den Glatzkopf freundlich, »Ich muss zugeben, Sie haben mir im Dunkeln einen kleinen Schrecken eingejagt.«
Der Nachbar lächelte verständnisvoll. »Jaja, dieses bescheuerte Treppenlicht. Der Hausverwalter hätte das schon vor Wochen reparieren sollen, aber dieser schrullige Typ hat offensichtlich besseres zu tun.«
Nun fiel auch das letzte bisschen Anspannung von Henry ab. Eifrig entgegnete er: »Dieser Kerl ist aber auch wirklich ein schräger Vogel.«
Wieder nickte der Nachbar. Für einen kurzen Augenblick herrschte peinliches Schweigen zwischen den beiden.
»Also… ich werde mich dann mal in Ruhe drinnen einrichten und mein Zeug vom Auto hochtragen. Ich schätze, man sieht sich hin und wieder?« Henry machte einen zaghaften Schritt in Richtung seiner Wohnungstür.
»Aber sicher doch!«, beteuerte der Nachbar, »Ihnen noch einen schönen Abend.« Damit kehrte er auf dem Absatz um und schlappte in seinen Flipflops die Treppe hinunter. Bei dem leisen Flap. Flap. Flap. bekam Henry noch immer eine Gänsehaut. Kurz überlegte er, ob er seinen Nachbarn fragen sollte, weshalb um alles in der Welt er im Treppenhaus Flipflops trug, doch er entschied sich dagegen. Er wollte nicht unhöflich rüberkommen und gleich im ersten Gespräch einen schlechten Eindruck hinterlassen.
Also drehte sich Henry schweigend um und betrat mit klopfendem Herzen seine neue Wohnung.
Sonntag, 17:31 Uhr
Drinnen schaltete Henry zuallererst das Licht ein. Die nackte Glühbirne, die an einem dünnen Kabel von der Decke baumelte, knisterte auf und tauchte den Eingangsbereich in ein warmes Licht.
Aus Mangel eines Kleiderhakens faltete Henry seine dicke Herbstjacke und legte sie neben seine Schuhe auf den Boden. Dann folgte er dem kurzen Wohnungsflur nach links und gelangte ins Wohnzimmer. Sofort kehrte das Gefühl in ihn zurück, mit der Wohnung die richtige Wahl getroffen zu haben. Anders als der Flur war der Rest der Wohnung bereits möbliert. Die Mitte des Wohnzimmers füllte ein breiter Esszimmertisch, an der Wand dahinter lehnte eine alte Holzkommode und ein Bücherregal, das bis hoch an die Decke reichte. An der linken Wand befand sich ein großes Doppelfenster, das einen weiten Blick auf den Hinterhof des Hauses ermöglichte. Direkt unter dem Fenster stand ein himmelblaues Sofa.
Eifrig durchquerte Henry sein neues Königreich und freute sich dabei über den kuschelig warmen Bodenläufer, der sich an seine Füße schmiegte. Er setzte seinen Erkundungsgang im Schlafzimmer und im Bad fort, sog in vollen Zügen den Duft seiner neuen Wohnung ein (was er schnell wieder bleiben ließ, denn es roch zugegebenermaßen ziemlich modrig; er beschloss gleich am Wochenende Lufterfrischer im Baumarkt zu besorgen) und überlegte bereits, wie er sich seine neue Bleibe möglichst schnell heimisch machen konnte.
In diesem Moment vibrierte das Handy in seiner Hose. Henry zog es heraus und entsperrte den Bildschirm. Eine neue Nachricht von Anni:
(17:35) Hey Schatz, ich sitze jetzt im Zug. Bist du schon in der Wohnung? Wenn alles nach Plan läuft, bin ich in zweieinhalb Stunden bei dir <3
(17:36) Bin gerade angekommen. Das Grundstück ist der Wahnsinn! Kanns kaum erwarten, mit dir alles zu erkunden <3, antwortete Henry und schickte noch ein Selfie von sich in der neuen Wohnung hinterher. Dann schaltete er sein Handy aus. Er wanderte zurück ins Wohnzimmer, warf einen kurzen Blick durch das Fenster auf den dunklen Hinterhof und warf sich dann aufs Sofa.
Autsch! Fluchend rieb sich Henry seinen schmerzenden Hintern. Irgendetwas hartes hatte sich in seine rechte Pobacke gebohrt. Henry stand vom Sofa auf und begutachtete misstrauisch die himmelblauen Kissen. Zögernd streckte er seine Hand aus und zog eines der Kissen beiseite. Nichts.
Henry runzelte die Stirn. Er rückte das Kissen zurück an seine Stelle, stützte sich mit beiden Händen darauf ab und verlagerte langsam sein Gewicht auf das Kissen. Erneut spürte er einen harten Widerstand. Irgendetwas musste in dem Bezug selbst stecken! Sofort war Henrys Neugierde geweckt. Mit spitzen Fingern fummelte er an dem blauen Bezug herum, bis er endlich den Reisverschluss fand und aufzog. Flugs schob er seine rechte Hand in den Bezug und tastete ihn nach dem gesuchten Gegenstand ab.
Wenige Sekunden später zog Henry triumphierend seinen Arm wieder aus dem Kissen. In der Hand hielt er ein kleines, ledergebundenes Notizbuch.
»Was haben wir denn da?«, murmelte er, ließ das Kissen achtlos neben sich zu Boden fallen und setzte sich auf die andere Seite des Sofas. Das Notizbuch wirkte auf den ersten Blick nicht weiter ungewöhnlich. Der dunkle Ledereinband war ein wenig zerkratzt, doch ansonsten erschien das Buch wie neu. Kurz drehte Henry das Büchlein ein wenig in den Fingern und begutachtete es von allen Seiten. Dann, als er vor Neugier beinahe zu platzen drohte, schlug er es auf.
»Ein Tagebuch!«, freute er sich, als sein Blick auf die schnörkeligen Notizen fiel, die sich wie tanzende Luftschlangen über die Seiten kringelten. Das kleine Datum, welches oben rechts in die Ecken gekritzelt stand, verriet, dass die Einträge in dem Buch gerade einmal ein knappes Jahr alt waren. Eine Signatur auf der ersten Seite sagte ihm, dass dieses Tagebuch einer gewissen Hannah Wollseif gehört hatte.
Für einen Moment rangen in Henrys Inneren Neugierde und Anstand miteinander. Zum einen interessierte ihn brennend, welche Geheimnisse das Tagebuch wohl enthielt, zum andern fühlte er sich ein bisschen wie ein Einbrecher in die Privatsphäre einer fremden Person.
»Wichtige Entscheidungen treffen sich besser über eine heiße Tasse Kaffee«, beschloss Henry und erhob sich vom Sofa. Kurz fröstelte ihn bei dem Gedanken, erneut hinaus ins dunkle Treppenhaus zu steigen, doch gleichzeitig verstärkte sich dadurch auch sein Wunsch nach einem koffeinhaltigen Heißgetränk. Also schaltete er seine Handytaschenlampe ein und begab sich auf den Weg zu seinem Auto.
Der kurze Ausflug verlief ohne Zwischenfälle. Nach weniger als 15 Minuten saß Henry wieder auf seinem Sofa (diesmal in Jogginghose und in einen großen, weichen Kapuzenpulli gehüllt) und schlürfte genüsslich heißen Kaffee aus einer Thermosflasche. Die Entscheidung, ob er in das Tagebuch hineinlesen wollte, war längst getroffen.
Henry lehnte sich entspannt zurück und schlug die erste Seite auf. Sie war auf den 2. Oktober des Vorjahres datiert.
~ Dienstag, 02. Oktober ~
Hiii liebes Tagebuch,
Ich bin so aufgeregt! Maja und ich sind heute in unsere erste gemeinsame Wohnung gezogen! Majas Eltern haben uns gefahren, was echt total lieb von ihnen war. Die letzten Stunden haben wir damit zugebracht, unser Zeug in den ersten Stock zu schleppen und drüben im Dorf das Nötigste einzukaufen. Die Gegend ist wahnsinnig idyllisch!
Auch die Wohnung ist voll schön… okay, zugegeben, es ist ein bisschen moderig, die Vorhänge müssen definitiv raus und es sieht so aus, als hätte hier seit Jahren niemand mehr Staub gewischt, aber ansonsten ist es wirklich toll!
Naja, wir wollen heute früh schlafen gehen – ich bin echt todmüde! Vielleicht finde ich morgen ein bisschen mehr Zeit zum Schreiben :)
Henry nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Thermosflasche. Er hatte also recht gehabt! Diese Hannah war wirklich seine Vormieterin. Offenbar waren sie und Maja ebenfalls ein junges Pärchen, die ihre erste gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Henry kuschelte sich ein wenig tiefer in sein Sofa und blätterte weiter.
~ Mittwoch, 03. Oktober ~
»Schatz, komm schnell her!«
»Hm?« Hannah rollte sich aus ihrem Bett, in dem sie gerade noch gelümmelt hatte und schlurfte träge zum Essenstisch, wo ihre Freundin im Pyjama vor dem Laptop saß.
»Guck mal, ich habe neue Sofabezüge im Internet gefunden. Was hältst du von dem grünen da?« Maja deutete auf den Bildschirm.
»Mmmm«, machte Hannah und legte ihr Kinn auf Majas Schulter ab. »Mir gefällt das Muster nicht so gut, lass uns lieber das Blaue da nehmen.«
»Oki, wie du meinst«, erwiderte Maja und lehnte ihren Kopf gegen den von Hannah. »Dann bestelle ich jetzt, ja?«
»Ja.« Hannah gähnte. »Ich hätte Lust auf einen kleinen Spaziergang ums Haus, kommst du mit?«
»Ich komme gleich nach, ich möchte noch nach einer neuen Türmatte schauen.«
»Alles klar«, meinte Hannah, beugte sich herunter und gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. Dann schlenderte sie ins Bad, um sich zu waschen und anzuziehen.
Fünf Minuten später stand sie draußen im Treppenhaus. Durch die kleinen Fenster in der gegenüberliegenden Hauswand fiel schwach das rote Herbstlicht. Es war sehr still. Wüsste Hannah nicht von dem Hausverwalter, dass hier noch andere Menschen wohnten, hätte sie die restlichen Wohnungen wohl für leerstehend gehalten. Darüber machte sich Hannah jetzt allerdings keine Gedanken. Sie beachtete auch nicht die vielen Kratzspuren an den Wänden, die nur sichtbar wurden, wenn man ganz genau hinsah.
Müde aber gut gelaunt stieg Hannah die Treppe hinab bis zur Haustür. Es war abgeschlossen. Hannah runzelte die Stirn. Irgendeiner der Nachbarn musste wohl nachts das Haus abschließen.
»Naja, wem’s gefällt«, murmelte sie schulterzuckend und kramte ihren Schlüsselbund aus der Jackentasche. Sie musste den Schlüssel dreimal im Schloss umdrehen, bis es Klick machte und die Tür sich öffnen ließ. Sofort wehte Hannah ein Schwall frischer Herbstluft entgegen. Sie machte ein paar Schritte hinaus und überlegte gerade, wohin sie gehen sollte, als sie vorne am Eingangstor zum Grundstück eine Frau mit ihrem Hund stehen sah. Die Frau stand bewegungslos da und starrte Hannah an. Sie hatte schulterlanges, graues Haar, eingefallene Augen und tiefe Lachfältchen um den Mund. Jetzt lächelte sie auch.
Hannah erwiderte das Lächeln unsicher und hob ihre Hand zu einem Gruß. Die Frau reagierte nicht. Sie stand einfach weiter so da und lächelte Hannah an. Hannah senkte verwirrt ihre Hand. Langsam wurde ihr bei dem Blick der Frau ein bisschen unbehaglich.
Dann plötzlich drehte sich die Frau zur Seite um und lief parallel zur Straße weiter den Zaun entlang. Ihr Gang war schnell, aber seltsam abgehakt als würde sie humpeln. Ihren Hund, ein kleiner Pekingese, schleifte sie einfach hinter sich her.
»BUH!«
»Woaahh!«, rief Hannah und machte einen gewaltigen Satz nach vorne.
Maja kicherte. »Was bist du denn so schreckhaft heute?«
Hannah schüttelte sich. »Nicht witzig, Maja. Ich habe grade eine total gruselige alte Frau gesehen. Die hat einfach dagestanden und mich angegrinst.«
»Klingt doch freundlich«, meinte Maja schulterzuckend.
»Ich weiß nicht…«, erwiderte Hannah, »Es hat sich irgendwie komisch angefühlt.«
Jetzt musste Maja lachen. »Ach komm, du machst dir schon wieder viel zu viele Gedanken. Lass uns eine kleine Runde um den Block drehen. Vielleicht treffen wir die alte Frau ja und dann können wir sehen, ob sie wirklich so gruselig ist.«
»Na schön«, murmelte Hannah, auch wenn ihr jetzt gar nicht mehr nach Spazieren zu Mute war. Sie sahen die alte Frau mit ihrem Pekingesen an diesem Tag nicht wieder und am Abend, als Hannah ihr Tagebuch schrieb, war sie sich schon gar nicht mehr so sicher, ob sie sich die seltsame alte Frau vielleicht nur eingebildet hatte.
Sonntag, 17:52 Uhr
Henry sah von dem Tagebuch auf. Irgendetwas war noch nicht ganz richtig. Prüfend sah er sich in seinem Zimmer um. Dann hellte sich seine Miene auf. Was er jetzt brauchte, war eine dicke Wolldecke und gedimmtes Licht. Glücklicherweise war beides leicht zu beschaffen. Die Wolldecke hatte er vorhin in kluger Voraussicht schon mit aus dem Auto geholt und in seinem Rucksack fand er nach einigem Wühlen seine kleine Leselampe. Schnell schaltete er das große Deckenlicht aus und kuschelte sich mit dem kleinen Tagebuch in seine Wolldecke. Kurz warf er einen Blick auf sein Handy. Es war 17:53 Uhr. Noch reichlich Zeit, bis Annis Zug ankommen würde.
»So lässt sich der Abend verbringen«, frohlockte Henry und nahm noch einen kräftigen Schluck Kaffee. Dann fuhr er seine Lektüre fort.
~ Samstag, 06. Oktober ~
Es klingelte an der Tür. Hannah sah von ihrem Laptop auf.
»Na, das ging aber schnell«, murmelte sie. Maja war gerade einmal vor zehn Minuten losgezogen, um in der Stadt frische Brötchen und Kaffee beim Bäcker zu holen. Hannah war zuhause geblieben und hatte es sich auf dem Sofa vor ihrer Netflix-Serie bequem gemacht.
»Ich könnte jetzt wirklich einen starken Kaffee gebrauchen«, seufzte Hannah auf dem Weg zur Wohnungstür. Sie öffnete die Tür ohne überhaupt hinzusehen, weil sie schnell zurück zu ihrer Serie wollte und sagte: »Mach bitte hinter dir zu, draußen muss es eiskalt um diese Uhrzeit sein.«
Die Tür fiel ins Schloss.
»Hast du alles beim Bäcker bekommen?«, fragte sie und ließ sich zurück auf die Couch fallen.
Maja antwortete nicht. Stattdessen hörte Hannah ein leises Flap. Flap. Flap. Irritiert sah sie zur Tür, die vom Eingangsbereich ins Wohnzimmer führte. Dort stand dort ein großer Mann mit Glatze im Türrahmen. In den Händen hielt er ein großes Kuchentablett, mit dem er Hannah breit angrinste.
Hannah verkrampfte sich plötzlich. Vor Schreck bekam sie keinen Ton mehr über die Lippen.
»Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich einfach so hereinschneie. Es ist wirklich recht kalt draußen und ich wollte nicht die Tür offen stehen lassen«, erklärte der Mann, immer noch freundlich lächelnd.
Als Hannah weiterhin schwieg, fuhr er fort: »Ich bin Frank aus dem Stockwerk oben drüber. Hoffentlich habe ich Sie nicht erschreckt. Ich habe nur mitbekommen, dass Sie frisch eingezogen sind, und wollte Ihnen einen Kuchen bringen.«
Wie zum Beweis hob er das Kuchentablett in seinen Händen ein wenig an.
»Ähm, danke, das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr… also ich meine Frank«, brachte Hannah nach einigem Stottern heraus. Auf einmal wurde ihr schrecklich bewusst, dass sie nur in ihrem dünnen Pyjama auf dem Sofa saß.
Frank schien das nicht weiter zu stören. »Darf ich?«, fragte er und ohne eine echte Antwort abzuwarten, schlappte er in seinen Flip-Flops bereits an Hannah vorbei zum Esszimmertisch, um dort den Kuchen abzustellen.
»Pflaumenkuchen«, erklärte er ungefragt, »Hab ich selbst gebacken. Ist wirklich köstlich. Bringt mir nur bitte das Tablett später zurück.«
»In Ordnung«, krächzte Hannah. Frank stand jetzt mitten im Zimmer und machte keine Anstalten, die Wohnung zu verlassen.
»Ach, eine Sache noch«, meinte der Nachbar, »Die Wände hier sind recht dünn. Falls es mal nachts zu laut werden sollte, dann könnt ihr jederzeit bei mir anklopfen.« Dabei hatte er wieder dieses breite Grinsen im Gesicht.
Hannah nickte nur.
»Na, dann will ich mal nicht länger stören. Einen schönen Tag noch!«, sagte Frank und mit diesen Worten verließ er die Wohnung.
Hannah wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war, bevor sie endlich aus ihrer Starre erwachte. Auf wackeligen Knien ging sie zur Wohnungstür und spähte durch den Türspion. Draußen sah sie ihren Nachbarn in seinen Flip-Flops die Treppe zum zweiten Stock hinaufschlurfen.
Wenige Minuten später kehrte Maja mit zwei vollgeladenen Brötchentüten und zwei dampfenden Kaffeebechern zurück.
»Ist doch nett von unserem Nachbarn, dass er uns gleich am zweiten Tag Kuchen bringt«, kommentierte sie Hannahs Erzählung von ihrem Zusammentreffen mit Frank.
»Ja schon, aber er war total gruselig drauf«, beharrte Hannah. Ihre weißen Finger, die den Kaffeebecher umklammert hielten, zitterten noch immer.
»Ich weiß, dass alles hier ist für dich genauso neu wie für mich, Hannah, aber ich glaube, du steigerst dich da zu sehr in etwas rein. Ich denke, unser Nachbar wollte einfach nur nett sein.«
Hannah wirkte nicht überzeugt.
»Na komm, lass uns ein Stückchen Kuchen essen, vielleicht bist du dann überzeugt«, schlug Maja vor.
»Meinetwegen«, brummte Hannah und holte Teller und Gabeln aus der Küche. Anschließend setzten sich die beiden im Schneidersitz auf das Sofa und aßen von dem Kuchen.
»Der schmeckt komisch«, beschwerte sich Hannah, nachdem sie einen ersten vorsichtigen Bissen genommen hatte. Sie verzog das Gesicht. Der Kuchenteig hatte die Konsistenz von festgebackenem Sand und die Pflaumen waren glitschig und schmeckten verdorben.
»Du hast recht.« Auch Maja spukte eine Pflaume aus und betrachtete angewidert den unförmigen, schleimigen Klumpen auf ihrem Teller.
»Außerdem sind Haare drin!«, ärgerte sich Hannah und zeigte auf ihr angeknabbertes Kuchenstück. An einer Stelle ragten zwei kleine Härchen aus dem Teig.
»Die müssen wohl beim Backen hineingefallen sein«, meinte Maja und zuckte mit den Schultern.
»Ekelhaft!«, war alles, was Hannah dazu zu sagen hatte. Sie schnappte die beiden Teller und das Kuchentablett und kratzte den restlichen Pflaumenkuchen in den Biomüll.
»Kommst du mit, ich möchte gleich das Tablett zurückbringen«, meinte Hannah, nachdem sie den Abwasch erledigt hatte und kehrte mit dem Tablett zurück ins Wohnzimmer.
»Na schön, weil du es bist«, seufzte Maja und ließ sich von ihrer Freundin zur Wohnungstür schleifen.
Als die beiden den Hausflur betraten wurden sie von Musik überrascht. Kein hämmernder Bass oder schräge Töne, sondern klassische Klaviermusik, die gedämpft von oben durch das Treppenhaus schallte.
»Sieht so aus, als ob unser Nachbar Frank am Klavier mehr Talent hat als am Backofen.«
»Nur weil jemand Klavier spielen kann, disqualifiziert ihn das noch lange nicht als mordlustigen Serienkiller«, grummelte Hannah.
»Nö, aber immerhin kann er uns was vorspielen, bevor er uns den Gar aus macht«, scherzte Maja.
»Ha. ha«, kommentierte Hannah trocken.
»Ach, komm schon. War doch nur Spaß«, lachte Maja und nahm ihre Freundin liebevoll in den Arm. Hannah wehrte sich erst ein kleines bisschen, dann ließ sie die Umarmung zu.
»Na komm, geben wir unserem klavierspielenden Serienkiller sein Kuchentablett zurück«, meinte Maja schließlich und die beiden Mädchen machten sich auf den Weg zur Wohnung ihres Nachbarn.
Maja und Hannah standen gerade vor Franks Wohnungstür als die Klaviermusik im Inneren der Wohnung plötzlich verstummte. Hannah warf einen flüchtigen Blick über die Schulter.
»Ach schade, dass er jetzt gerade aufhört. Ich wollte noch ein bisschen zuhören«, seufzte Maja und betätigte die Türklingel. Drinnen in der Wohnung konnten sie es drei Mal läuten hören. Noch bevor das dritte Läuten verstummt war, öffnete Frank die Tür.
Diesmal trug er überhaupt keine Schuhe und auch keine Socken. Immerhin war er darüber mit einer Jogginghose und einem schlichten weißen T-Shirt bekleidet.
»Wie hat euch mein Kuchen geschmeckt?«, fragte Frank, dessen Blick sofort auf das Tablett gefallen war.
»Der Kuchen war…«, setzte Hannah an, doch Maja unterbrach sie mitten im Satz.
»…war hervorragend!«, beteuerte sie, »Nochmal vielen Dank.« Sie übergab das Geschirr.
»Ach, das war doch das Mindeste«, erklärte der Nachbar im Entgegennehmen.
In diesem Moment drang ein dumpfes Klopfen hinter ihm aus der Wohnung. Für einen winzigen Moment, beinahe unsichtbar für einen unaufmerksamen Beobachter, wechselte seine Miene von freundlich zu zornig. Doch dann lächelte er auch schon wieder.
»Ah, die Handwerker. Ich sollte wirklich wieder hinein, bevor die mir noch ungefragt das halbe Bad auseinandernehmen.« Der Nachbar lachte hohl.
»In Ordnung, wir wollten nur kurz das Tablett zurückbringen«, erklärte Maja, »Auf Wiedersehen!«
»Oh, das hoffe ich«, sagte der Nachbar freundlich und schloss die Tür.
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